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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Gegenüber solchen Menschenarten muß der „wilde“ Mensch noch als eine recht zahme Fabel erscheinen; kein Wunder darum, daß man bis in die neueste Zeit an dessen Existenz nicht zweifelte! Wurde doch noch vor vier Jahren an die Berliner Anthropologische Gesellschaft ein Bericht über die Papua-Inseln eingesandt, in dem wörtlich zu lesen ist:

„Auf der Aru-Insel soll ein Stamm vorkommen, welcher bis zu 6 Zoll lange, vom Kopfe abstehende Ohren haben und auch in seiner Gestalt sonst sehr abnorm sein soll. Herr Sisto, ein ‚achtungswerther‘ Kaufmann, hat früher einmal ein solches Individuum besessen, dasselbe ist aber in kurzer Zeit gestorben. Dieser Stamm soll mit andern keinen Umgang haben. Ein andrer Stamm soll weiße Hautfarbe und rothbraune Haare haben und auch auf Bäumen wohnen, ähnlich wie auf einer der Key-Inseln. Auch soll ihre Sprache eine ganz thierische sein, und sie sollen sich ganz abgesondert halten, ohne Kleidung, auf der niedrigsten Stufe stehend. Wie die andern Arunesen angeben, sind die Leute Abkömmlinge von Europäern, welche dort vor vielen Jahren gescheitert sein sollen.“

Wir führen gerade diesen Bericht zuerst an, denn er umfaßt so zu sagen die gesammte Frage des „wilden“ Menschen; erstens wird darin behauptet, daß es „wilde“ Menschenstämme giebt, zweitens, daß auch Abkömmlinge civilisirter Menschen „verwildern“ oder auf die thierische Stufe hinabsinken können. Auch wir werden diese Fragen nach jenen beiden Richtungen hin erörtern.

Als wilde thierartige Stämme wurden namentlich die Zwergvölker und die Buschmänner Afrikas ausgegeben.

Krapf, der bekannte Missionar und Reisende in Ostafrika, erzählte nach Berichten von Sklaven von den Doko, welche in einer unerforschten Gegend Abessiniens in dichten Bambusurwäldern wohnen und nicht höher als vier Fuß, von der Größe zehnjähriger Kinder, sein sollten. „Sie leben,“ heißt es von ihnen, „in einem durchaus thierischen Zustande ohne Wohnung, ohne Tempel, ohne heilige Bäume; sie haben keinen Häuptling und keine Waffen; sie klettern auf Bäume wie die Affen; der längen Nägel bedienen sie sich beim Ausgraben von Wurzeln und Ameisen und zum Zerreißen von Schlangen die sie roh verschlingen.“

In den Gebieten, welche augenblicklich das so viel besprochene „Reich Emin Paschas“ bilden, fand später Schweinfurth den Zwergstamm der Akka, die uns an die Doko Krapfs erinnern.

Die Mittheilungen Schweinfurths wurden in jüngster Zeit durch Emin vervollständigt; wir wissen jetzt, daß die Akka als Jäger im Lande umherziehen, in allen Schlichen und Künsten des Weidwerks wohl bewandert sind, daß sie das erlegte Wild an die ackerbautreibenden Stämme verkaufen und mit den Häuptlingen derselben Verträge abschließen; wir wissen auch, daß sie Menschenfresser, äußerst boshaft und grausam sind − aber der Gedanke, daß diese Akka näher den Thieren als dem Menschen stehen sollen, erscheint uns heute geradezu absurd. Zwischen dem rohesten grausamsten Akka und einem Chimpansen gähnt dieselbe unüberbrückbare Kluft wie zwischen dem Europäer und dem Affen.

Eine andere Abart des „wilden“ Menschen sind die sogenannten „Affenmenschen.“ In der Zeitschrift der Asiatischen Gesellschaft von Bengalen wurde noch aus dem Jahre 1824 allen Ernstes berichtet, daß unter Dhangur-Kulis, die auf einer Kaffeeplantage arbeiteten, sich zwei Personen, ein Mann und eine Frau, befunden hätten, die man Affenmenschen nannte. Durch Zeichen hatte man aus ihnen herausgebracht, daß ihr Stamm weit in den Gebirgen wohne, und man will später in den Wäldern von Terai solche Menschen lebend und vollkommen affenähnlich gefunden haben. Es kamen immer andere Reisende, die ähnliches gesehen zu haben behaupteten, bis die Nachricht auftauchte, daß es auf Sumatra in den Wäldern einen Menschenstamm gäbe, der „nackt und ganz behaart“ ist und Orang Koobos genannt wird, und einen andern, die Orang Gugur, die noch wilder seien, fast ganz ohne Kinn, mit haarigem Körper, ohne Waden, aber mit langen Fersen und noch längeren Armen, zurückliegender Stirn und vorstehenden Kinnbacken.

Das Interesse an Affenmenschen gewann durch die Darwinsche Theorie neue Nahrung. Diese Gebilde waren ja unzweifelhaft die fehlenden Kettenglieder zwischen Mensch und Affe, nach denen man so eifrig forschte, und eines Tages, vor wenigen Jahren, lasen auch die erstaunten Europäer in den Tagesblättern die Nachricht, daß ein Affenmensch, ein Mädchen von 7−8 Jahren, in dem Walde von Laos eingefangen worden sei und eine Rundreise durch Europa antreten werde. In der Ankündigung wurde erzählt, daß von dieser sonderbaren Rasse eine ganze Familie, Vater, Mutter und Tochter, gefangen worden sei, der Vater sei in Laos an der Cholera gestorben, der Beherrscher des Landes habe nicht gestattet, die Mutter zu exportiren, und so sei das Kind allein nach Europa gebracht worden. Dieses Kind war die einem jeden von unsern Lesern ohne Zweifel bekannte Krao, welche diesen Namen darum erhielt, weil die Eltern, wenn die Kleine weglief, in einem klagenden Tone „Kra-o!“ gerufen haben sollten.

Das Affenmädchen, dessen Haut in der That mit Haaren bedeckt war, wurde jedoch nicht allein von einem staunenden Publikum angegafft, sondern auch von Gelehrten, wie Virchow und Bartels, untersucht und diese stellten fest, daß die kleine Krao eine echte Siamesin sei, bei der man die längst bekannte Erscheinung der Ueberhaarung beobachten könne, daß sie also den sogenannten „Haarmenschen,“ die von Zeit zu Zeit bei den verschiedensten Völkern sich vorfinden, zuzuzählen sei.

Inzwischen kam auch aus Bangkok die Kunde, daß Krao die Tochter eines königlichen Beamten in jener Stadt sei, daß die Eltern ebenso wie jeder andere Siamese aussehen und das Kind an einen Unternehmer vermiethet hätten.

In dem Zeitalter der Dampfschiffe wurde der letzte Versuch, den Affenmenschen wieder aufleben zu lassen, in kürzester Zeit als Humbug erkannt. Alle anderen Berichte über ähnliche „Wilde“ erwiesen sich im Lichte der Forschung als Fabel und Märchen. Nirgends waren solche Stämme aufzufinden und sie existirten nur in der Phantasie einiger unkritischen Reisenden, wie das einst auch mit dem „vergoldeten König Dorado“ der Fall war. Darum sagt auch Dr. Johannes Ranke mit Recht in seinem vortrefflichen Werke „Der Mensch“ (Leipzig, Bibliogr. Institut.): „Thierartige, wilde Völker oder Stämme, welche die Mittelglieder zwischen Mensch und Affe darstellen, giebt es nicht.“

„Aber,“ fügt er noch hinzu, „es giebt auch nicht einzelne Individuen, welche wissenschaftlich als solche Mittelglieder aufgestellt werden dürften.“

Wir gelangen hiermit zu dem zweiten Theil unseres Themas, zur Erörterung der Frage, ob der Mensch, wenn er von jeder Gemeinschaft mit der Gesellschaft ausgeschlossen und sich selbst in der Wildniß überlassen bleibt, wirklich verwildern, zu einem Thier werden kann.

Wir wissen ja, daß eine derartige Isolirung gewaltige Veränderungen hervorruft und dem Menschen Fähigkeiten, die er als Kulturmensch erworben, raubt. Hatte doch der Schottländer Selkirk die Kenntniß der Sprache und das Vermögen, zu reden, fast ganz verloren, nachdem er fünf Jahre einsam aus der Insel Juan Fernandez gelebt hatte. Ein anderes Beispiel liefert uns ein schauerliches Experiment des Mongolenfürsten Akebar, der grausamerweise dreißig noch nicht sprechende Knaben so einschließen ließ, daß sie niemand sprechen hören konnten, indem er wissen wollte, wie ihr Sprechen dann werden würde. Keiner derselben brachte es aber zu artikulirten Lauten. Was nun der Barbarenfürst erfahren wollte, das hat uns mehr als einmal der Zufall geboten. Die Geschichte kennt eine Reihe von „Waldmenschen“, welche in den Wäldern Europas eingefangen wurden, die jeder Kultur bar, ohne Vernunft und stumm waren.

Diese Waldmenschen veranlaßten seiner Zeit den großen Naturforscher Linné, dem homo sapiens, dem Weisen, den homo ferus, den Wilden, in seinem System entgegenzustellen, dem er folgende Merkmale beifügte: „vierfüßig, stumm, behaart.“

Im Laufe der Zeit sind 16 derartige Menschen bekannt geworden, zumeist Knaben und Mädchen, ihr Erscheinen fällt in vergangene Zeiten, wo es in Europa noch entlegene Wälder, unzugängliche Moore und Sümpfe gab.

Liest man die Lebensgeschichten dieser Wildlinge, welche neuerdings Prof. Rauber in Leipzig zusammengestellt hat,[1] so gewinnt man die Ueberzeugung , daß die Isolirung des Menschen furchtbar in ihren Wirkungen ist, und darum verdienen jene Fälle auch in unsrer Zeit Beachtung. Die Forscher der Gegenwart können dieselbe besser deuten und erklären als die Gelehrten früherer Jahrhunderte. Wir wollen an dieser Stelle nur der besonders charakteristischen Wildlinge erwähnen.

Aus dem Jahre 1672 stammt ein Bericht über den sogenannten „irischen Jüngling“. „Es wurde,“ heißt es darin, „ein Jüngling von

  1. Rauber, „Homo sapiens ferus“. Leipzig, Denickes Verlag.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 882. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_882.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)