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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)


Der Schrei der Lokomotive, der zuweilen aus dem Thale heraufscholl, und das Gekrächz vorüberfliegender Raben waren die einzigen Laute in der fürchterlich verschwiegenen und verschneiten Welt.

Wenn das bange Auge am Abend noch einen letzten Blick hinauswagte, sah es fallendes, sanftes, gleichmäßiges Schneegeriesel; wenn der geblendete Blick morgens über die weißen Lande und Höhenzüge zu schauen suchte, sah er fallendes, sanftes, gleichmäßiges Schneegeriesel. Und so schneite es Tag um Tag und begrub die deutschen Berge, Wälder und Ebenen unter ungeheuren Schneemassen. Es wurde Weihnacht und es schneite noch immer fort.

Aber die Todtenruhe des Schneefalls wurde nächtens zuweilen jäh durchtobt von wilden Stürmen.

In dem Hause am Walde hatte man sich gewehrt gegen den lautlosen Feind. Mit großen Mühen hatte man den Fahrweg zum Thal einigermaßen brauchbar erhalten, wenn auch des Verwalters Pferd anstatt des Wägelchens nun einen derben Holzschlitten zog. Und auf diesem Schlitten kam alles herauf, was Gerda für ihr Weihnachtsfest brauchte.

Ihr Knabe zeigte eine Art von ungeduldiger Vorfreude auf den heiligen Abend. Doch sagte er jeden Tag, daß er sich nichts wünsche, nur einen Tannenbaum, diesen aber sehr schön. Der Verwalter hatte eine schöne Fichte zu beschaffen gewußt, und seit mehreren Tagen schlich sich Gerda, sobald das Kind etwas zu schlummern schien, in das Glashaus, in dessen Mitte man die Fichte eingepflanzt hatte, als wüchse sie da natürlich heraus.

Sie hing den herrlichen Baum voll mit all den Dingen, die ein Kinderauge blenden und ein Kinderherz entzücken. Was eine reiche Phantasie nur ersinnen konnte an stimmungsvollem Schmuck, hatte Gerda erhandeln lassen. Die grünen Zweige flimmerten von Silberfäden, Krystallzapfen, Goldsternchen. Die bunten Wachslichtchen waren nicht zu zählen und auf der Spitze des Baumes schwebte ein Engel mit schimmernden Flügeln, die Hände segnend ausgebreitet.

In der Glashalle standen rings an den Wänden Palmen, Lorbeern und Coniferen in großen Kübeln. Den Boden in der Mitte deckten dicke Matten und Teppiche. Eine künstlich verdeckte Heizung ließ eine behagliche Wärme nie unter den Grad sinken, den der Arzt als für Sascha nothwendig bezeichnet hatte. Für das Kind war dieser Raum in weniger als sechs Wochen hergestellt worden. Aber der arme Kleine hatte kaum die Lust gezeigt, darin zu spielen.

Für den Weihnachtsabend ließ Gerda bequeme Stühle, eine Chaiselongue und dergleichen hereintragen, damit der Knabe seinen Tannenbaum sehen und dabei still liegen konnte. Denn seit einigen Tagen zeigte er sich zu matt, um sich noch auf den Füßen zu halten.

Gerdas Angesicht war bleich und die eherne Schrift unaussprechlicher Leiden hatte scharfe Züge hineingeschrieben. Kein Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie am Nachmittag des vierundzwanzigsten Dezembers ihr fertiges Werk besah. Keine frohe Hast war in ihren Bewegungen, die nur eine letzte Willensenergie der Todmüdigkeit abzuringen schien. Nicht wie eine glückliche Mutter schmückte sie den Christbaum für ein jubelndes Kind. Diese Lichter sollten einen letzten Glanz auf den Weg zum Grab werfen, den ihr Kind, ihr einziges Kind ging.

O, könnte sie mitgehen! Die Welt mit ihren Freuden und Leiden war ihr versunken. Die Grabesstille der verschneiten Natur hatte auch Stille in ihr Herz gebracht. Sich hinlegen, nie mehr aufwachen und so sanft, sanft, immerzu den sachten Schnee auf sich herabrieseln lassen!

Die Kerze in ihrer Hand zitterte. Sie hätte sich da hinwerfen mögen auf den Boden und weinen – weinen. Aber in dem Zimmer, von welchem aus man in das Glashaus gelangte, war das Kind. Sascha hätte es hören können, wenn nur ein schluchzender Laut über ihre Lippen gekommen wäre.

Und die Riesenkraft der Mutterliebe besiegte zum unzähligsten Male den Jammer in der Brust der unglücklichen Frau, der endlich, endlich einmal laut aufzuschreien lechzte.

Sie zwang ihre Hand zum Gehorchen und ihren Blick, klar zu bleiben. Sie ging hin und wieder, ordnete die Geschenke für die Dienstboten und zündete alle Lichter an.

Die Glaswände warfen die Bilder der vielen kleinen Strahlenherde kalt blinkend zurück. Weiß schimmerte von draußen der Schneewall, der das Haus umlagerte, weiß grüßte vom durchsichtigen Dach die Decke herab, die draußen der Schnee auf die Glasplatten gehäuft hatte.

Trotz der Wärme, die hier drinnen herrschte, überlief es Gerda frostig.

Sie hielt noch einmal Umschau. Alles war fertig. Wie seltsam – eine Weihnacht für ein Kind ohne Geschenke! Sie wußte ja, ihr Knabe hatte mehr an schönen Sachen, als die wechselndsten Neigungen eines Kindes nur begehren konnten, und verlangte fast nie mehr nach Spielzeug oder nach Büchern. Aber wenn er doch einen, einen Wunsch gehabt hätte – selbst den thörichtsten, Gerda würde ihn mit Wonne erfüllt haben. Und doch, so ohne Wünsche, so voll heimlicher Vorfreude?

Welcher Einbildung, oder welcher Ahnung diese Vorfreude gelten könnte, wagte Gerda kaum auszudenken. Ihre Kniee versagten ihr den Dienst, wenn sie an die Enttäuschung dachte, die dieser Vorfreude folgen mußte.

Warum mußte?! Wenn seine Liebe den Knaben prophetisch gemacht hätte! – so an den Grenzen des Grabes wird die Seele hellseherisch. Wenn das wahr würde, was Sascha zu erwarten schien! Wenn er käme, endlich, endlich zurückkäme zu den beiden, die ohne ihn vergingen!

Gerda fühlte einen Schwindel. Aber jäh stockte ihr rasender Pulsschlag. Sein Weib fiel ihr ein. Zur Weihnacht bleibt man bei seiner Familie.

Armes Kind!

(Schluß folgt.)




Gottfried Keller.

Einem schweizer Dichter, der am Ufer des von Klopstock gefeierten Züricher Sees, mit wenigen Unterbrechungen sein Leben zugebracht hat und dort noch jetzt im höheren Alter lebt, wendet an seinem siebzigsten Geburtstage sich die Theilnahme des deutschen Volkes zu; denn seine eigenartige Begabung und seines Wesens kernhafte Tüchtigkeit sind stets hochgeschätzt worden von allen Kundigen. Namhafte Kritiker haben der Ergründung seiner Eigenart und der Würdigung seiner Vorzüge größere Schriften gewidmet, und ein Litterarhistoriker wie Adolf Stern nennt ihn den innerlich reichsten, unmittelbarsten und gestaltungskräftigsten Dichter der Gegenwart. Das Leben Gottfried Kellers ist der beste Kommentar zu seinen Dichtungen. In kleinbürgerlichen Verhältnissen geboren, hat er keine regelmäßige gelehrte Vorbildung genossen, sondern als Kunstschüler eine Epoche von Sturm und Drang und unsicherem Umhertasten durchgemacht, bis er später durch jahrelange Universitätsstudien Versäumtes nachzuholen und sich eine vielseitige Bildung zu erwerben suchte. Er war am 19. Juli 1819 in einem Dorfe in der Nähe von Zürich geboren, wo sein Vater als schlichter und nicht sehr vermögender Drechslermeister lebte. Dieser starb früh und nun sorgte die Mutter für die Erziehung des Knaben. Er widmete sich der Landschaftsmalerei, ging 1840 nach München, kehrte aber 1842 wieder in seine Heimath zurück, da er in jener Kunststadt nichts Rechtes vor sich brachte. Auf dem Gebiete der Poesie fühlte er sich infolge seiner mangelhaften Vorbildung unsicher, und doch trieb es ihn jetzt an, sich gerade auf diesem Gebiete Lorbeeren zu erwerben. So besuchte er 1848 die Universität zu Heidelberg und begab sich 1850 nach Berlin, wo er bis 1855 blieb. Von da ab schlug er wieder in Zürich seinen Wohnsitz auf und beschäftigte sich bis 1861 mit litterarischen Arbeiten; dann nahm er eine Stellung an als Staatsschreiber und wurde Mitglied des Großen Rathes, ein angesehenes Amt, in welchem er bis zum Jahre 1876 verharrte.

Die erste Veröffentlichung Kellers war eine Sammlung von „Gedichten“, die im Jahre 1846 herauskam; eine zweite folgte 1851; viel später erschienen die „Gesammelten Gedichte“ (1883). Die Lyrik Kellers gehört also ganz seiner jugendlichen Epoche an; denn in der letzten Sammlung sind nur ein im Heinisirenden Stil gehaltenes, an den „Romanzero“ und „Atta Troll“ erinnerndes phantastisch-satirisches Gedicht und einige Gelegenheitsgedichte hinzugefügt worden. An Heine erinnert Gottfried Keller sonst durchaus nicht in seinen Liedern, ebenso wenig an Geibel; er hat weder den einschneidenden Hohn des ersteren, womit dieser selbst seine dichterischen Blüthen zerpflückt, noch den weichen Hauch eines zartinnigen Gefühls, mit welchem der letztere seine Liederblüthen aufblättert; auch nur selten erinnern Klänge mit begeistertem Aufschwung an Herwegh und die politische Lyrik. Freilich hat Keller in der Regel auch nicht den melodischen, sich dem Ohr einprägenden Fluß und Guß dieser Poeten; seine Dichtweise hat etwas Schwerflüssiges, aber Gedankentiefes und ist von einer eigenartigen markigen Bildlichkeit. Der Natur und auch dem Alltagsleben lauscht er die geheimsten Züge ab und beseelt sie mit dichterischem Pulsschlag. Das Naturbild wird zum Seelengemälde durch das, was der Dichter in dasselbe hineinschaut und hineinfühlt, und umgekehrt das Seelengemälde zum Naturbild durch die Wahrheit der aus dem vollen Leben geschöpften Züge.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 474. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_474.jpg&oldid=- (Version vom 30.3.2020)