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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

aufblickte, bis ein steinaltes Weiblein, welches mühselig daher gepilgert kam, vor ihr still stand, um auszuruhen und Athem zu holen. Das Wesen trug einen hohen gelben Strohhut auf dem Kopfe, einen kurzen rothen Rock und solche Strümpfe, auf dem gekrümmten Rücken ein weißes Säcklein und in der Hand einen Stab und stellte sich so als eine Pilgerin dar, die aus ferner Gegend kommend nach dem berühmten Wallfahrtsorte wanderte, der wenige Stunden weiter im Gebirge gelegen war.

Als Justine sah, daß das Mütterchen kaum mehr stehen konnte, hieß sie dasselbe zu ihr auf die Bank sitzen. Das will ich gern thun, wenn Ihr's erlaubt, schöne Frau! sagte die Pilgerin und säumte nicht, sich neben ihr niederzulassen. Auch kramte sie sogleich in ihrem Reisesack und zog ein Stück Brod hervor, indem sie sich nach einem Brunnen umsah, der ihr einen Trunk Wasser dazu böte. Justine holte aber ein Glas guten alten Weines im Hause und gab es ihr, und sie labte sich vergnüglich daran.

„Warum geht Ihr in Eurem Alter so allein auf der heißen, harten Straße, während alle andern Wallfahrer auf der Eisenbahn und den Dampfschiffen reisen und bequemlich bei einander sitzen?" fragte Justine.

„Ei, das wäre ja kein Verdienst und kein Opfer für mich arme Sünderin! antwortete die Pilgerin;

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 221. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/497&oldid=- (Version vom 31.7.2018)