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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

gleichen Tone, da sie aus ihrer Frömmigkeit eine Selbstbeherrschung schöpften, welche sonst nur durch Geburt und Erziehung erworben wird. In gleichem Sinne unterdrückten sie ohne Anstrengung unbescheidene Neugierde und Tadelsucht und wie alle die kleinen Gesellschaftslaster heißen, und gegen die Ungläubigen und Weltkinder waren sie um so wohlwollender und duldsamer, je sicherer sie zu wissen glaubten, daß dieselben tief unglücklich, wohl gar verloren seien.

Das Unrecht nahmen sie hin, ohne sich seiner gerade zu erfreuen, aber auch ohne es zu bestreiten. Brüder des verstorbenen Mannes und Vaters hatten sich emporgeschwungen und lebten scheinbar in Wohlhabenheit und Ansehen, ohne das kleine Erbe, das dem Kinde und seiner Mutter zukam,- jemals herauszugeben oder ihnen auch nur einige Zinsen davon zu gönnen. Die Hochfahrenden waren eben stets in Geldsachen gedrückt und mochten die mäßigsten Summen nicht entbehren, das aber nicht eingestehen und stellten sich daher, als anerkennten sie das Recht nicht, so klar es war. Es hätte die zwei Frauen nur ein Wort gekostet, Jene dazu zu zwingen und ihr öffentliches Ansehen bloßzustellen; allein sie waren selbst von ihren Glaubensgenossen nicht dazu zu bewegen und blieben, so lange sie lebten, die armen geduldigen Gläubiger der hochfahrenden ungerechten Verwandten, so daß

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 233. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/509&oldid=- (Version vom 31.7.2018)