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Gottfried Keller: Kleider machen Leute. In: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage, Band 3

Rosenbäumchen den Schlaf der Gerechten verträumten. Dann kam sie wieder zurück und da er jetzt mit klopfendem Herzen ihr im Wege stand und bittend die Hände nach ihr ausstreckte, fiel sie ihm ohne Weiteres um den Hals und fing jämmerlich an zu weinen. Er bedeckte ihre glühenden Wangen mit seinen fein duftenden dunklen Locken und sein Mantel umschlug die schlanke, stolze, schneeweiße Gestalt des Mädchens wie mit schwarzen Adlersflügeln; es war ein wahrhaft schönes Bild, das seine Berechtigung ganz allein in sich selbst zu tragen schien.

Strapinski aber verlor in diesem Abenteuer seinen Verstand und gewann das Glück, das öfter den Unverständigen hold ist. Nettchen eröffnete ihrem Vater noch in selbiger Nacht beim Nachhausefahren, daß kein anderer, als der Graf der Ihrige sein werde; dieser erschien am Morgen in aller Frühe, um bei dem Vater liebenswürdig schüchtern und melancholisch, wie immer, um sie zu werben, und der Vater hielt folgende Rede:

„So hat sich denn das Schicksal und der Wille dieses thörichten Mädchens erfüllt! Schon als Schulkind behauptete sie fortwährend nur einen Italiener oder einen Polen, einen großen Pianisten oder einen Räuberhauptmann mit schönen Locken heirathen zu

Empfohlene Zitierweise:
Gottfried Keller: Kleider machen Leute. In: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage, Band 3. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/53&oldid=- (Version vom 31.7.2018)