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wohl daran, daß zum ersten Mal meine geistigen Kräfte in einer ihnen entsprechenden Aufgabe voll angespannt waren. Wenn ich ganz allein in dem Zimmer, das mir zur Arbeit angewiesen war – ich hatte damals noch kein eigenes Arbeitszimmer – am Schreibtisch saß, kümmerte mich die ganze übrige Welt nichts mehr. Nach jeder gelösten Mathematikaufgabe pfiff ich ein paar Takte als Triumphlied. Ich zog es nie in Erwägung, Mathematik zu studieren. Ich hatte ein sportliches Vergnügen daran als an einer gesunden geistigen Turnübung. Aber es war nicht das, wofür ich geboren war. Ganz anders war es beim Latein. Das Erlernen der neuen Sprachen hatte mir nicht annähernd soviel Freude gemacht. Diese Grammatik mit ihren strengen Gesetzen entzückte mich. Es war, als ob ich meine Muttersprache erlernen würde. Daß es die Sprache der hl. Kirche ist und daß ich später einmal in dieser Sprache beten sollte, davon ahnte ich damals noch nichts.

Die Familie sah mich in dieser Zeit fast nur bei den Mahlzeiten und nach dem Abendessen. Abends durfte ich nicht weiter arbeiten. Wir waren als Kinder daran gewöhnt, pünktlich um acht Uhr schlafen zu gehen. Später wurde die Zeit auf neun Uhr heraufgedrückt. Ich habe auch in den obersten Gymnasialklassen nicht daran gerüttelt, weil mir daran lag, früh frisch und leistungsfähig zu sein.

In den ersten Monaten der heimlichen Arbeit sagte ich auch meinem treuen Ritter Franz nichts davon. Einmal fand er auf meinem Schreibtisch einen beschriebenen Zettel. Ich haschte schnell danach und nahm ihn an mich, ehe er ihn lesen konnte. Er fragte etwas betrübt, ob ich ein Geheimnis hätte. Nach einem kleinen inneren Kampf reichte ich ihm das Papier. Es standen lateinische Zahlwörter darauf. „Du willst aufs Gymnasium gehen?“ „Ja“. Er wurde sehr nachdenklich, sprach aber keinen Einwand aus. Ich bat ihn noch, gegen alle zu schweigen; dann war dieses Gespräch zu Ende. Ich weiß nicht, was in jenem Augenblick in ihm vorging. Es ist wohl möglich, daß er sich sagte, ich sei nun für ihn verloren. Er war ernster und grüblerischer als sein Zwillingsbruder – gerade das hatte mich immer angezogen. Aber er lernte schwerer, und nach einer langen Diphterieerkrankung, die ihn sehr angriff, war er sogar eine Klasse zurückgeblieben. Nach schwerem Kampf hatte er sich entschlossen, mit Primareife das Gymnasium zu verlassen und als Lehrling in ein Bankgeschäft zu gehen. Ich hatte ihn damals tief enttäuscht, weil ich für die Schwere der Entscheidung noch kein Verständnis hatte; ich war ja noch ein richtiges Kind, als er die Krisen der Reifezeit durchmachte. Daß ich beim Studium in meinem Element sein würde, wußte er. Aber er mochte sich sagen,

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/112&oldid=- (Version vom 31.7.2018)