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den Stunden so gut wie ausgeschaltet war, aber ich fühlte mich doch nicht ganz sicher. Immerhin: unnötig zu büffeln, das wäre doch verlorene Zeit gewesen. Im Notfall würde ich am Prüfungstage selbst genügend Zeit zum Wiederholen haben, wenn ich dran käme. Ich hatte während des Jahres allerhand für die mündliche Prüfung vorbereitet. So besaß ich ein Heft, in dem alle Horaz-Oden, die wir durchgenommen hatten, übersetzt und erläutert waren. Ich hatte eine Reihe von Themen für Geschichte ausgearbeitet, auch einige in französischer und englischer Sprache. Alle diese Schätze verteilte ich nun in der Klasse unter die Bedürftigen. Bittende Hände streckten sich danach aus, mit herzlichem Dank wurden die Gaben empfangen. Mir wurde die ehrenvolle Aufgabe zuteil, in dieser Zeit das „Bierdrama“ zu verfassen. Ich habe es nicht aufbewahrt, erinnere mich aber noch an den Gang der Handlung. Die Heldin war eine Abiturientin nach der Prüfung. Ihr Geist ist durch das viele Lernen in Verwirrung geraten, die Mutter geht mit ihr zu einem Magier, der die bösen Geister austreiben soll. Er beschwört sie, und sie erscheinen einer nach dem andern: Cicero und Horaz, Frau von Stein und Gretchen und Klärchen u.s.w. Am Schluß erwacht die Patientin wie aus einem bösen Traum, fühlt sich sehr wohl, weiß aber nichts mehr. Da findet sie bei sich ein Papier, das ihr jede Sorge nimmt:

Ist auch mein Kopf von Wissen leer,
Ich fürchte nichts und niemand mehr:
Hier steht’s ja klar und deutlich drin,
Daß ich jetzt reif zum Studium bin!

Es wurde außerdem eine Kommission ernannt, um das Abschiedsfest vorzubereiten. Außer mir gehörten ihr meist die Mädchen aus sehr begüterten Häusern an, die wußten, wie man Abschiedsgesellschaften arrangiert. Unsere Steuerkasse reichte natürlich bei weitem nicht für unsere kühnen Pläne. Aus Rücksicht auf unsere unbemittelten Mitschülerinnen wollten wir keine allgemeinen Beiträge mehr einziehen. Die wohlhabenden übernahmen freiwillige Leistungen: eine wollte für Blumenschmuck sorgen, eine für kalte Platten, wieder andere für Getränke, für Kuchen und Torten. So wurde alles sehr vornehm und schön; an den Stil eines Kommerses erinnerte nur das „Bier“-drama und die „Bier“-Zeitung. Wir verschickten die Einladungen schon vor der mündlichen Prüfung. Das wurde uns von den Lehrern als sträflicher Leichtsinn schwer verübelt und trug uns lange Standreden ein. Sie kamen aber dann doch alle, selbst unser alter Direktor, der damals schon sehr leidend war.

Der Prüfungsmorgen, der 3. März 1911, kam heran. Wir mußten

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/127&oldid=- (Version vom 31.7.2018)