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fragte, wann ich zu ihnen kommen wolle, sagte ich, ich könnte nicht kommen. Darauf telephonierte ihr Vater noch einmal selbst und verlangte Angabe des Grundes. Er erbot sich, mir alles Material vorzulegen, damit ich mir selbst ein Urteil bilden könne. „Du bist doch ein gebildetes Mädchen und kennst den Spruch: Audiatur et altera pars!“ Aber ich ging nicht darauf ein. Ich sagte, ich hätte in der Sache kein Urteil, aber so, wie das Verhältnis meiner Mutter zu Onkel Eugen immer gewesen sei, fühle ich mich verpflichtet, zu ihm zu stehen. Die ganze Angelegenheit war mir sehr peinlich, und ich habe später mein Verhalten bereut. Onkel Berthold war viele Jahre hindurch nicht nur mir, sondern auch meiner Mutter sehr böse. Da ich dann sehr lange nicht mehr nach Berlin kam, habe ich ihn und auch die lieben Cousinen nicht wiedergesehen. Ich habe ihm nur viel später einmal sagen lassen, daß mir die Sache leid sei, und dann auch von ihm einen Gruß als Zeichen der Versöhnung bekommen.

Nach der Rückkehr der Italienreisenden fuhr ich nach Chemnitz. In dem schönen, wohlgeordneten Hause und in dem ganzen Bekanntenkreis war ich noch von dem früheren Besuch her ganz heimisch. Diesmal war auch mein Vetter Erich zu Hause. Er war ein Jahr jünger als ich und gerade in die Oberprima gekommen. Nun wurde ihm mein gutes Abitur als Muster vorgehalten; das gefiel ihm gar nicht. Als er einmal feststellte, daß ich den II. Teil des „Faust“ gelesen hatte, sagte er ganz erbost: „Ihr habt nur so viel Zeit zu lesen, weil Ihr zu faul seid, Sport zu treiben“. Im übrigen kamen wir recht gut miteinander aus. Als ich einmal mit der Tante von einem Ausgang zurückkehrte, übte er sich gerade mit einem Freunde im Tanzen; die Musik lieferte ein Grammophon. Sobald Erich mich sah, fragte er, ob ich wohl tanzen könne. Die Tante verwies ihm diese Dreistigkeit, ich aber war gern bereit, den Tatbeweis zu liefern.

Durch Hans Biberstein war ich mit allem, was damals letzte Mode war, vertraut. Erich mußte sich als geschlagen erklären und versicherte mit aufrichtiger Bewunderung: „Ein Mädel, das Abitur gemacht hat, vom Mündlichen befreit, den ‘Faust’ gelesen hat und Walzer linksrum tanzen kann – das muß im Hansa-Theater (dem größten Variété von Chemnitz) ausgestellt werden“. Er selbst hat sein Abitur auch recht gut bestanden, aber dann nicht studiert. Er ging als junger Kaufmann nach Amerika. Ich habe auch ihn seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Sein älterer Bruder Walter hatte den Eltern immer viel Kummer gemacht. Die etwas verschwenderische Art der Mutter war bei ihm zu einem fast krankhaften Leichtsinn gesteigert. Mit großer Mühe wurde er bis zum „Einjährigen“ gebracht. Dann kam er als Kaufmannslehrling in ein solides Geschäft

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/133&oldid=- (Version vom 31.7.2018)