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nichts darin zu beirren war; und an den Arbeiten seiner Schüler wollte er doch auch eine Hilfe für die seinen haben. Das wurde mir aus unserer Unterredung ganz klar. Er empfing mich gütig wie immer, ging auch bereitwillig auf meinen Wunsch ein, obwohl ich ja noch reichlich jung war; aber was er mir vorschlug, das konnte nicht ernstlich für mich in Betracht kommen: Ich sollte – im Anschluß an das Referat, das ich in diesem Winter gehalten hatte – die Entwicklung des kindlichen Denkens bearbeiten, und zwar mit Ausfrageexperimenten, wie sie der unglückliche Mos zu seiner Qual seit Jahren betrieb. Da ich vorhatte, über Berlin und Hamburg nach Göttingen zu reisen, sollte ich von Berlin aus das „Institut für angewandte Psychologie“ in Klein-Glieneke bei Potsdam besuchen und mir von Sterns Mitarbeiter Dr. Otto Lipmann das dort vorhandene Bildermaterial zeigen lassen, ob etwas für diese Arbeit Passendes darunter sei. Der Besuch in Klein-Glieneke war das Einzige, was ich für meine psychologische Dissertation getan habe.

Moskiewicz war mit Dr. Lipmann befreundet und meldete uns – sich selbst, Rose und mich – für einen Nachmittag dort an. Der Hausherr und seine reizende kleine Frau empfingen uns mit herzlicher Gastfreundschaft. Wir wurden zum Kaffee und Abendessen eingeladen, bekamen die netten Kinder vorgestellt und das ganze Häuschen gezeigt und machten einen schönen Spaziergang an den Havelsee, an dem der Ort liegt. Zwischendurch wurden wir auch einmal in die hellen Kellerräume geführt, in denen das „Institut“ untergebracht war. Die Bildersammlungen, die in einem Schubkasten vorhanden waren, lockten mich wenig, und der kluge Dr. Lipmann bestätigte mir, daß damit nicht viel anzufangen sei.

Ich nahm die Erinnerung an einen netten Nachmittag mit und die Überzeugung, daß aus der Arbeit nichts werden könne. Es war von vornherein verfehlt, an eine psychologische Arbeit zu denken. Mein ganzes Psychologiestudium hatte mich ja nur zu der Einsicht geführt, daß diese Wissenschaft noch in den Kinderschuhen stecke, daß es ihr noch an dem notwendigen Fundament geklärter Grundbegriffe fehle und daß sie selbst nicht imstande sei, sich diese Grundbegriffe zu erarbeiten. Und was ich von der Phänomenologie bisher kennen gelernt hatte, entzückte mich darum so sehr, weil sie ganz eigentlich in solcher Klärungsarbeit bestand und weil man sich hier das gedankliche Rüstzeug, das man brauchte, von Anfang an selbst schmiedete. Die Erinnerung an mein psychologisches Thema war anfangs in Göttingen noch ein leichter Druck, aber ich schüttelte ihn bald ab.


Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/167&oldid=- (Version vom 31.7.2018)