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Nach den allgemeinen Besprechungen rief er die Neuen einzeln zu sich heran. Als ich meinen Namen nannte, sagte er: „Herr Dr. Reinach hat mir von Ihnen gesprochen. Haben sie schon etwas von meinen Sachen gelesen“ – „Die Logischen Untersuchungen“. (Der I. Band der „Logischen Untersuchungen“ erschien 1900 und wurde durch seine radikale Kritik an dem herrschenden Psychologismus und allen andern Relativismen epochemachend. Der II. Band folgte im nächsten Jahr. Er übertraf den I. Band an Umfang und Bedeutung bei weitem. Denn hier war zum erstenmal zur Behandlung logischer Probleme die Methode angewendet, die Husserl später als „phänomenologische Methode“ systematisch ausgearbeitet und auf das gesamte Gebiet der Philosophie ausgedehnt hat). – „Die ganzen Logischen Untersuchungen?“ – „Den II. Band ganz“. – „Den ganzen II. Band? Nun, das ist eine Heldentat“, sagte er lächelnd. Damit war ich aufgenommen.

Kurz vor Semesterbeginn war Husserls neues Werk erschienen: „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie“. Es sollte im Seminar besprochen werden. Außerdem kündigte Husserl an, daß er regelmäßig an einem Nachmittag der Woche zu Hause sein wollte, damit wir zu ihm kommen und ihm unsere Fragen und Bedenken vortragen könnten. Natürlich kaufte ich mir das Buch sofort (d.h. den I. Band des „Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung“, den es eröffnete; dieses Jahrbuch sollte fortan die Arbeiten der Phänomenologen gesammelt herausbringen). Am ersten „offenen Nachmittag“ fand ich mich als erster Gast bei Husserl ein und trug ihm mein Bedenken vor. Bald fanden sich andere dazu. Alle hatten dieselbe Frage auf dem Herzen. Die „Logischen Untersuchungen“ hatten vor allem dadurch Eindruck gemacht, daß sie als eine radikale Abkehr vom kritischen Idealismus kantischer und neukantischer Prägung erschienen. Man sah darin eine „neue Scholastik“, weil der Blick sich vom Subjekt ab – und den Sachen zuwendete: die Erkenntnis schien wieder ein Empfangen, das von den Dingen sein Gesetz erhielt, nicht – wie im Kritizismus – ein Bestimmen, das den Dingen sein Gesetz aufnötigte. Alle jungen Phänomenologen waren entschiedene Realisten. Die „Ideen“ aber enthielten einige Wendungen, die ganz danach klangen, als wollte ihr Meister zum Idealismus zurücklenken. Was er uns mündlich zur Deutung sagte, konnte die Bedenken nicht beschwichtigen. Es war der Anfang jener Entwicklung, die Husserl mehr und mehr dahin führte, in dem, was er „transzendentalen Idealismus“ nannte (es deckt sich nicht mit dem transzendentalen Idealismus der kantischen Schulen), den eigentlichen Kern seiner Philosophie zu sehen und alle Energie auf seine Begründung zu

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/193&oldid=- (Version vom 31.7.2018)