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Sohn einer offenbar sehr wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie aus Leipzig. Da er noch zwei jüngere Brüder hatte, die das väterliche Geschäft übernehmen konnten, durfte er sich ganz der Philosophie widmen und geradewegs auf die Hochschullaufbahn zusteuern. Er war wohl der Einzige von uns, der auf gar kein Brotstudium Rücksicht zu nehmen hatte. In diesem Kreise, wo man sonst um äußere Dinge sehr unbekümmert war, fiel seine elegante Kleidung sehr auf. Alle freuten sich im stillen, als einmal sein Nachbar im Seminar, ein Amerikaner, recht energisch die Füllfeder ausspritzte und Kaufmann sichtlich besorgt um seinen hellgrauen Anzug war. Seine Sprache war ein tadelloses Hochdeutsch ohne den leisesten sächsischen Anflug, während Lipps zu seinem größten Kummer den Sachsen schon mit den ersten Worten verriet. (Er wollte durchaus keiner sein, sondern betonte immer, er sei Preuße, da er von seinem Vater die preußische Staatsangehörigkeit geerbt habe).

An dem Tage, an dem wir die Vorbesprechung bei Husserl hatten, gingen Rose und ich nachmittags zum erstenmal auf den Bismarckturm. Während wir unterwegs eifrig Veilchen pflückten, holte uns Kaufmann ein. Er erkannte uns von der Begegnung am Morgen wieder, grüßte und sagte freundlich: „Es sind eine Menge Veilchen da“. Damit war das erste Gespräch eingeleitet. Ich war sehr erstaunt, als er mir gelegentlich erzählte, Reinach habe ihn beim ersten Besuch „beinahe hinausgeworfen“ und ihm die Aufnahme in seine Übungen entschieden verweigert. Bisher war mir gar nicht der Gedanke gekommen, daß die Güte, mit der ich empfangen wurde, eine persönliche Auszeichnung sein könnte. Als ich später an Reinachs Übungen teilnahm, fand ich die Erklärung. Reinach wehrte bei aller Güte und Freundlichkeit jede Anmaßung, der er begegnete, sehr ernst ab. Und Kaufmann mochte sich mit einigem Selbstbewußtsein bei ihm vorgestellt haben. Er schadete sich durch die Haltung und durch eine gewisse Manieriertheit in seiner Sprache bei fast allen. Ich merkte aber ziemlich bald, daß dies nur die Oberfläche war. Ich nahm es mir heraus, ihn manchmal recht kräftig zu necken, ohne von seiner zur Schau getragenen Würde Notiz zu nehmen. Dann guckte er sehr erstaunt wie bei etwas ganz Ungewohntem, aber es schien ihm gutzutun; er taute allmählich auf, und es kam vor, daß sein Ton ganz schlicht und herzlich wurde.

Es gab in Husserls Seminar auch Leute, die bei ihm persönlich arbeiteten, aber nicht in die Philosophische Gesellschaft kamen. Als ich bald nach Semesterbeginn einen Abend bei Courants eingeladen war, sagte Richard: „Wenn du in Husserls Seminar bist, mußt du doch Bell kennengelernt haben“. Er sei ein Kanadier. Ich hatte einige Amerikaner und Engländer bemerkt, wußte aber nicht,

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 180. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/199&oldid=- (Version vom 31.7.2018)