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und deutsche Literatur bestimmt. Übrigens hatte ich den Termin für die Meldung verpaßt. Ich wußte nicht einmal, daß es einen Schlußtermin dafür gab und einen Anschlag in der Universität, der darauf aufmerksam machte. Der Sekretär der Prüfungskommission, ein Lehrer des Göttinger humanistischen Gymnasiums, wies mich in ungnädigen Worten darauf hin, ließ sich aber doch noch herbei, die Papiere anzunehmen. Ich weiß nicht mehr, wann ich den Bescheid aus Hannover erhielt. Wahrscheinlich erst nach den Ferien. Lehmann hatte das Thema genau so formuliert, wie ich es schon bei ihm im Seminar bearbeitet hatte; hier war nur noch etwas Literatur hineinzuarbeiten; das konnte ich ruhig bis vor dem Ablieferungstermin – das war im November – verschieben. Husserl aber bereitete mir eine unangenehme Überraschung. Sein Gedächtnis hatte ihn wohl etwas im Stich gelassen, und er hatte das Thema so gestellt, daß nicht nur Theodor Lipps, sondern auch die übrige Einfühlungsliteratur zu berücksichtigen war, wenn auch Lipps in erster Linie. Ich konnte wohl die sachliche Einteilung und den ganzen Aufbau lassen, wie er war, mußte aber neue Massen von Literatur durchstudieren und hineinarbeiten.


3.

Von den Ferien habe ich in Erinnerung, daß gerade Ernas praktische Prüfung begonnen hatte, als ich heimkam. Die Mediziner müssen ja im Staatsexamen in sämtlichen Kliniken ihre Fertigkeit beweisen, und das zieht sich durch Monate hin. Erna war nicht zur Bahn, als ich abends anlangte; sie hatte sich zu Bett legen müssen, weil sie darauf gefaßt war, nachts zu einer Entbindung in die Frauenklinik gerufen zu werden. Ich wurde aber gleich zu ihr geführt. Die ganze Familie war ganz erfüllt von ihren Examensangelegenheiten; die meinen traten dem gegenüber zurück, und ich war froh, daß sich bei mir alles weit von zu Haus entfernt in aller Stille abspielen würde.

Kurz, ehe ich nach Göttingen zurückkehrte, lud mich Rose Guttmann für einen Abend ein, um eine Dame kennenzulernen, die auch im Sommer nach Göttingen gehen wollte. Ihr selbst war Toni Meyer durch Moskiewicz zugeführt worden, und sie hatte schon im Winter mit ihr etwas Phänomenologie gearbeitet. Die Familien Meyer und Moskiewicz waren miteinander befreundet, Toni und Georg kannten sich schon sehr lange und waren etwa im gleichen Alter, damals im 36. Jahr. Ich bin später, nachdem wir uns in Göttingen nahegekommen waren, viel bei Meyers gewesen und in ihrer schönen Häuslichkeit

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/223&oldid=- (Version vom 31.7.2018)