Seite:Edith Stein - Aus dem Leben einer jüdischen Familie.pdf/230

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

4.

Mitten in unser friedliches Studentenleben hinein platzte die Bombe des serbischen Königsmordes. Der Juli war erfüllt von der Frage: Wird es zu einem europäischen Kriege kommen? Alles sah danach aus, als ob ein schweres Gewitter heraufzöge. Aber wir konnten es nicht fassen, daß es wirklich dazu kommen sollte. Wer im Kriege oder nach dem Kriege herangewachsen ist, der kann sich von der Sicherheit, in der wir bis 1914 zu leben glaubten, keine Vorstellung machen. Der Frieden, die Festigkeit des Besitzes, die Beständigkeit der gewohnten Verhältnisse waren uns wie eine unerschütterliche Lebensgrundlage. Als man schließlich merkte, daß der Sturm unaufhaltsam näher kam, suchte man sich den Verlauf klar zu machen. Das stand fest, daß er ganz anders würde als alle früheren Kriege. Eine so entsetzliche Vernichtung würde es sein, daß es nicht lange dauern könnte. In ein paar Monaten würde alles vorbei sein.

Wenn Toni und ich um 7 Uhr abends aus Reinachs Kolleg kamen, holten wir uns in einem Zeitungsverkauf in der Judenstraße die „B.Z. am Mittag“, die um diese Zeit mit dem Berliner Zug ankam. Manchmal war sie noch nicht da, wenn wir kamen. Dann gingen wir plaudernd vor der Türe auf und ab, bis sie eintraf. Andere machten es natürlich ebenso. Einmal begegneten wir dabei Reinach mit Frau und Schwester. Wir hatten uns gerade aus einem Obstladen Kirschen geholt und aßen davon zum Zeitvertreib. Im Vorbeigehen reichte ich Reinach und den beiden Damen die offene Tüte, und sie langten hinein. Ein paar Augenblicke später lief Frau Reinach hinter uns her und bot uns von ihrem Vorrat an, den sie indessen erstanden hatte. Sie mußte sich aber von ihrem Mann sagen lassen, Fräulein Steins Kirschen seien viel besser als ihre.

Als ich zur letzten Seminarsitzung in Reinachs Arbeitszimmer trat, war noch niemand da. Auf seinem Schreibtisch lag ein großer, aufgeschlagener Atlas. Bald nach mir kam Kaufmann. Auch er bemerkte die aufgeschlagene Landkarte. „Reinach studiert auch den Atlas“, sagte er. Es wurde an diesem Abend nicht mehr philosophiert. Man sprach nur noch von den kommenden Ereignissen. „Sie müssen auch mit, Herr Doktor?“, fragte Kaufmann. „Ich muß nicht, ich darf“, gab Reinach zurück. Ich freute mich herzlich über diese Antwort. Sie entsprach durchaus meinem eigenen Empfinden.

Von Tag zu Tag steigerte sich die Erregung. Ich verhielt mich aber schon damals so, wie ich es später in solchen Krisentagen ganz bewußt zu tun pflegte: ich blieb ruhig bei meiner Arbeit, obwohl innerlich bereit, jeden Augenblick abzubrechen. Es widerstrebte mir,

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/230&oldid=- (Version vom 31.7.2018)