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vorhätte. Ich wollte zum Roten Kreuz. Er hatte nicht gedient, aber natürlich würde er sich als Kriegsfreiwilliger melden; und wenn man ihn nicht nehmen wollte, müßte General von Gründell, der jetzt wieder aktiv würde, ihm dazu verhelfen. Er schrieb sich meine Adresse auf: wir wollten einander doch Nachricht geben, was aus uns würde. Zum erstenmal wurde mir klar, daß seine Freundlichkeit mir gegenüber nicht nur einer allgemeinen Menschenliebe entsprang, sondern herzlicher freundschaftlicher Zuneigung.

Nun eilte ich in meine Wohnung zurück, packte das Nötigste für die nächste Zeit zum Mitnehmen ein, verstaute alles andere schnell in meinen Reisekorb und übergab ihn meiner Wirtin zur Verwahrung. Schnell rechnete ich auch mit ihr noch ab und verabschiedete mich. Es war gerade Zeit, zu Courants hinüberzulaufen. Der Wagen stand schon vor der Tür, auch Toni war zur Stelle. Nelli aber ließ noch lange auf sich warten. Richard wollte zwar ein Stück mit uns fahren, aber sie nahmen schon jetzt in seinem Arbeitszimmer Abschied. Und das ging nicht so schnell. Ich war voller Teilnahme für beide. Eigentlich war es ja erstaunlich, daß Nelli abreiste, ehe ihr Mann fortgehen mußte. Ich hätte das an ihrer Stelle bestimmt nicht getan. Es geschah wohl aus Besorgnis um ihren Vater. Und dann war sie überhaupt anders als andere Menschen.

Der Bahnhof und der Zug waren natürlich voll von Reisenden. Wir konnten nicht nach Eidenberg fahren, wo wir sonst den Anschluß an die große Bahnstrecke Kassel-Breslau fanden, sondern mußten nach Kassel. Soweit begleitete uns Richard. In Kassel war die Aufregung und Verwirrung noch größer. Es war nicht einmal zu ermitteln, ob der Zug, in den wir stiegen, wirklich nach Breslau ging. Die Beamten wußten selbst nicht Bescheid und ließen sich schließlich gar nicht mehr blicken, um nicht immer wieder gefragt zu werden. An jeder Eisenbahnbrücke, über die wir fuhren, stand ein Wachtposten. Das war ein kleiner Vorgeschmack des Krieges. Im übrigen wurde es immer ruhiger und geordneter, je weiter wir nach Osten kamen. Dieselbe Beobachtung habe ich später bei Beginn der Revolution gemacht. Einmal mußten wir unterwegs längere Zeit Halt machen, weil an der Maschine etwas auszubessern war. Das war schon am nächsten Tag. Aus allen Abteilen kletterten die Reisenden hinaus und lagerten sich am Wegrand im hellen Juli-Sonnenschein. Es war ein friedliches und fröhliches Bild und berührte einen seltsam, wenn man daran dachte, daß man in den Krieg hineinfuhr. Irgendwo unterwegs fand sich der treue Danziger zu uns. Am späten Nachmittag des 31. Juli langten wir in Breslau an. Meine Hauptsorge galt Nelli. Ich wollte sie ihrem Vater abliefern, ehe ich selbst nach Hause fuhr. Ich glaube, ich bat Danziger, indessen an meine Leute zu

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 213. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/232&oldid=- (Version vom 31.7.2018)