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im allgemeinen Speisesaal. Dort sah ich – wohl schon am ersten Abend – Grete Bauer, die Breslauer Studentin. Es war mir eine rechte Wohltat, mit ihr ein paar Worte sprechen zu können. Sie machte mich auch mit ihrer Freundin, Schwester Alwine, bekannt, auch eine Berufsschwester von der B.O. Sie war erheblich älter als wir, aber jugendlich-frisch in ihrem Wesen. Blonde Löckchen guckten unter ihrem Häubchen hervor, und die großen, blauen Augen lachten vor Lebensfreude. Es war aber auch gleich zu merken, daß man einen gescheiten und tatkräftigen Menschen vor sich hatte.

Mit den Schwestern kam ich gut aus. Sie waren tüchtig und eifrig in ihrem Dienst, wenn es auch den Eindruck machte, daß sie dabei mehr von Ehrgeiz als von Menschenliebe bestimmt waren. Es schien, daß sie mich gern mochten. Ich war ja froh über jede Arbeit, die man mir anvertraute, sprang auch gern für die andern ein, wenn sie etwas vorhatten. Es war feste Einrichtung, daß wir vier abwechselnd zwischen Mittagessen und Kaffee – eine Zeit, in der gewöhnlich nicht viel zu tun war, Freizeit hatten. Ich legte keinen Wert darauf, denn ich war ja gekommen, um zu arbeiten, nicht um spazieren zu gehen oder zu schlafen. Aber im allgemeinen hielt Schwester Loni darauf, daß auch ich meine Erholungszeit bekam. Allmählich merkte ich auch, daß man sie brauchte: Briefe zu schreiben, seine Sachen in Ordnung zu halten, kleine Besorgungen in der Stadt zu machen u.s.w. Wenn ich aber gewahr wurde, daß Steffi Kopfweh hatte – das kam häufig vor – dann erbat ich mir Erlaubnis, sie zu Bett zu schicken und an ihrer Stelle Dienst zu tun. Sie machte nicht viel Worte, aber sie war dankbar, daß sich jemand freundlich um sie annahm. Sie war ja eine heimatlose Vertriebene. Als ich während des großen deutschen Vormarsches in Galizien öfters freudestrahlend mit einer Siegesbotschaft in den Krankensaal kam, sagte sie in ihrem etwas hart klingenden Deutsch: „O Schwester Edith, Sie bringen immer so gute Nachrichten“. Einmal konnte ich auch melden, daß ihre Heimatstadt Tarnow von den Russen befreit sei. Weniger Widerhall fanden meine Freudebotschaften bei den Soldaten. Sie schüttelten ungläubig den Kopf. Sie hatten die Niederlagen und das dauernde Zurückweichen miterlebt und konnten an den Umschwung nicht glauben. Ich war ganz empört darüber.

Auch mit Dr. Pick war gut zu arbeiten. Er kam von der Prager Universitätsklinik, war Internist von Fach und wünschte in unserm Saal ebenso tadellose Ordnung wie in seiner Klinik. Er freute sich über mein medizinisches Interesse und hielt mir gern am Krankenbett belehrende Vorträge, wie es sein Chef bei der großen Visite tun mochte. Auch praktisch habe ich manches von ihm gelernt. Eine sehr angenehme Entdeckung war ihm, daß er sich mit mir, wie mit

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/257&oldid=- (Version vom 31.7.2018)