Seite:Edith Stein - Aus dem Leben einer jüdischen Familie.pdf/261

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

gleich in der ersten Nacht zu einem Sterbenden. Der Arme konnte sich ihr in seiner Todesnot nicht einmal verständlich machen: es war ein Deutscher, und sie verstand kein Deutsch. Ich schickte sie schnell um den Arzt, der bei uns Nachtdienst hatte, und richtete indessen eine Spritze. Der Arzt kam bald, aber es war nichts mehr zu helfen. Er konnte nur noch den Tod abwarten und feststellen.

Das war das erstemal, daß ich jemanden sterben sah. Den zweiten Todesfall hatte ich in unserm Saal: als ich nach einigen Tagen Nachtdienst abends auf die Station kam, empfingen mich die Schwestern mit der Nachricht, daß ein Sterbender eingeliefert worden sei; sie hätten ihn mir noch für die Nacht aufgespart. Ich bekam die Weisung, ihm jede Stunde eine Kampferspritze zu geben. Mehrere Nächte fristete ich so das Lebensfünkchen bis zum nächsten Morgen. Es war ein großer, kräftiger Mann; er lag immer völlig regungslos und ohne Bewußtsein da. So war er schon angekommen. Niemand von uns hat ihn einmal die Augen öffnen sehen oder ein Wort sagen hören. In der letzten Nacht hatte ich ihm auch noch einige Spritzen gegeben. Dazwischen horchte ich von meinem Platz aus auf den Atem – auf einmal setzte er aus. Ich ging zu dem Bett hin: das Herz schlug nicht mehr. Nun mußte ich tun, was uns für solche Fälle vorgeschrieben war: die wenigen Gegenstände, die sich aus seinem Privatbesitz bei ihm fanden, zusammennehmen, um sie in der Militärkanzlei abzugeben (die meisten Sachen wurden den Leuten gleich bei der Ankunft abgenommen und bis zur Entlassung aufbewahrt); den Arzt rufen und mir einen Totenschein ausstellen lassen; mit dem Schein zur Torwache gehen und Männer bestellen, die den Toten auf einer Tragbahre abholten; schließlich alles Bettzeug entfernen. Als ich die paar Habseligkeiten ordnete, fiel mir aus dem Notizbuch des Verstorbenen ein Zettelchen entgegen: es stand ein Gebet um Erhaltung seines Lebens darauf, das ihm seine Frau mitgegeben hatte. Das ging mir durch und durch. Ich empfand jetzt erst, was dieser Todesfall menschlich zu bedeuten hatte. Aber ich durfte mich nicht dabei aufhalten. Ich raffte mich auf, um den Arzt zu holen. Ich mußte ins Zimmer hineingehen, um ihn zu wecken. Das Bett stand hinter einer Spanischen Wand. Dahinter kleidete er sich an und kam dann hervor. Es war Dr. Andersmann, ein junger Pole von der chirurgischen Station. Er sah mich an und sagte mitleidig: „Schwester, setzen Sie sich doch, Sie sehen ja ganz bleich und erschöpft aus“. Er stellte den Totenschein gleich nach meinen Angaben aus und ging dann erst mit mir, um den Tod festzustellen. Dann blieb ich wieder allein und erledigte die weiteren Geschäfte. Ganz unheimlich wirkte es, als die Träger den Toten so bei Nacht abholten. Ich wünschte nur, daß keiner von den

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/261&oldid=- (Version vom 31.7.2018)