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neben den Ideen im Jahrbuch möglich sein wird. Ich habe den Eindruck, daß Sie manches aus dem II. Teil der Ideen vorweggenommen haben“. Es gab mir innerlich einen Ruck. Da war ja ein Punkt, wo ich mit meiner Frage einhaken konnte. Nun schnell die Gelegenheit beim Schopf packen. „Wenn das wirklich so ist, Herr Professor – ich habe sowieso noch etwas fragen wollen. Fräulein Gothe sagte mir, Sie müßten einen Assistenten haben. Meinen Sie, daß ich Ihnen helfen könnte?“ Wir waren gerade im Begriff, über die Dreisam zu gehen. Der Meister blieb mitten auf der Friedrichsbrücke stehen und rief in freudigster Überraschung: „Wollen Sie zu mir kommen? Ja, mit Ihnen möchte ich arbeiten!“ Ich weiß nicht, wer von uns beiden glücklicher war. Wir waren wie ein junges Paar im Augenblick der Verlobung. In der Lorettostraße standen Frau Husserl und Erika und sahen uns entgegen. Husserl sagte zu seiner Frau: „Denke Dir, Fräulein Stein will zu mir als Assistentin kommen“. Erika sah mich an. Wir brauchten keine Worte zur Verständigung. In ihren tiefliegenden, dunklen Augen leuchtete die innigste Freude auf. Als wir abends wieder in unsern Betten lagen, sagte sie: „Gute Nacht, Assistentin!“

Wenn wir jetzt wieder mit Husserls zusammentrafen, wurden eifrig Zukunftspläne geschmiedet. Ich mußte noch für zwei Monate an die Schule in Breslau zurückkehren. Es war ja im Augenblick kein Ersatz für mich da, noch im Herbst hatte ich im Abiturium Latein zu prüfen. Aber vom 1. Oktober ab wollte ich mich frei machen. Husserls waren selbst erstaunt, daß ich ohne jedes Bedenken den Schuldienst an den Nagel hängen wollte. Frau Husserl zog daraus den Schluß, daß ich wohl sehr vermögend sein müsse. Jedenfalls wurde mir einige Jahre später wiedererzählt, daß sie mich dafür ausgegeben habe. Es wurde ernstlich über die Gehaltsfrage gesprochen. Husserl sagte, 100 Mark im Monat könne er mir geben. Damit würde ich freilich nicht durchkommen, aber es wäre doch eine große Erleichterung; meine Angehörigen würden dann lieber ihre Zustimmung geben. Ich sagte zu allem ja. Solche Dinge waren mir peinlich, ich wollte möglichst schnell davon loskommen.

Die Prüfung stand jetzt gar nicht mehr im Vordergrunde. Husserl sagte lachend: „Wir können sprechen, wovon Sie wollen. Sogar von Einfühlung. (Das war der Gegenstand meiner Doktorarbeit). Nur das Wort müssen wir vermeiden“. Ich schärfte ihm ein: „Prüfen Sie nur nicht so lange Geschichte der Philosophie wie im Staatsexamen“. Er meinte, dann würde es wohl gerade nötig sein.

Endlich kam der große Tag, der 3. August 1916. Am Vorabend fragte Erika im Bett, wie mir zumute sei. Ich antwortete: „In 24 Stunden ist es auf alle Fälle vorbei“. Sie war sehr erstaunt über

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/309&oldid=- (Version vom 1.8.2016)