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Nachbarn jeder Verkehr abgebrochen sei, mußte das Pförtchen zugemauert werden. Die Leidtragende war meine Mutter: sie mußte nun einen ganzen Häuserblock herum von der Jägerstraße nach der parallelen Rosenstraße gehen. Aber bald verfiel Herr Böse auf einen Ausweg, um seiner Feindin ein Schnippchen zu schlagen: es wurde zu beiden Seiten eine Leiter an die Mauer gestellt, und nun kletterte meine Mutter oftmal am Tage hinüber und herüber.

Später brachte der findige Wirt noch eine Verbesserung an. Er ließ einen Ausschnitt in die Mauer machen – es könne ihm ja niemand vorschreiben, wie hoch sie sein müsse –, so daß nun eine Leiter mit wenigen Stufen genügte. Für uns Kinder war das Hinüberklettern natürlich ein Vergnügen. Aber für meine Mutter, die damals etwa 50 Jahre alt war, war es mühsam, besonders im Winter, wenn die Stufen glatt und vereist waren. Von den Fenstern unserer Wohnung konnte man auf den Holzplatz hinunterschauen. Ehe Erna und ich zur Schule gingen, waren wir oft stundenlang allein in der Wohnung. Wir hatten dann strenge Weisung, niemanden Fremden hereinzulassen. Wenn wir uns keinen Rat wußten, konnten wir vom Fenster aus die Mutter rufen. Wir waren sehr gewissenhaft und hätten eher noch in Gegenwart meiner Mutter als in ihrer Abwesenheit etwas Verbotenes getan. Manchmal war mein Bruder Arno vormittags zu Hause. Dann kochte er für Mama eine Mehlsuppe zum 2. Frühstück. An schönen Tagen durften wir auf dem Holzplatz spielen. Es war ein Paradies für Kinder, in den schulfreien Stunden waren nicht nur wir alle dort, sondern auch die Spielgefährten aus dem kinderreichen Haus, aus der Schule und aus der Verwandtschaft. Platz war für alle da. Meine Mutter gab die Parole aus: „Aufs Wort folgen und nicht stören! Sonst könnt ihr machen, was ihr wollt“. Das einfachste Vergnügen war, eine Wippe zu bauen. Es wurde ein Brett über einen Holzblock gelegt; je ein Kind setzte sich rittlings auf ein Ende, und dann schnellte man abwechselnd in die Höhe. Das konnte man stundenlang fortsetzen, ohne es satt zu bekommen. Herrlich konnte man Versteck spielen. Es gab viele Holzstöße, hohe und niedrige. Was unter der Witterung leiden konnte, war in Schuppen untergebracht. Manche waren mehrstöckig; es führten Treppen hinauf, und drinnen war es dämmerig, man konnte sich in einen heimlichen Winkel zurückziehen, träumen oder Geschichten erzählen. Wir durften auch Holz zusammentragen und Häuser bauen. Manchmal wurden wir auch zum Helfen angestellt, Waggons abzuladen oder Felgen und Speichen zu regelmäßig gebauten hohen Türmen aufeinanderzuschichten. Kinder, die sich zu beschäftigen wußten, hatte meine Mutter immer gern da. Störenfriede dagegen wurden fortgeschickt. Unnachsichtig war sie gegen

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/41&oldid=- (Version vom 31.7.2018)