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Rosa für einige Zeit zu uns herauf. Es war ein verregneter Sommer, und fast jeder Tag brachte strömende Regengüsse. Aber sowie es ein wenig lichter wurde, waren wir draußen im Freien, Beeren und Pilze zu sammeln, weiter hinaufzusteigen. Hans besuchte uns oft, und wir gingen auch häufig nach Reinerz hinunter. Da Frau Biberstein Heidelbeeren liebte, nahmen wir ihr immer einen ganzen Waschkrug voll mit hinunter, und es bereitete uns ein besonderes Vergnügen, so über die Kurpromenade mit den eleganten Badegästen zu gehen. Auch diesmal sollte eine mehrtägige Wanderung den Höhepunkt der Ferienzeit bilden. Hans arbeitete das Programm aus, und da er ein Freund von Rekordmärschen war, sah er etwa 40 km für einen Tag vor. Wir fuhren zunächst nach Wölfelsgrund, um von dort den Glatzer Schneeberg zu besteigen, dann sollte die Fahrt weitergehen ins Altvatergebirge, das uns allen noch unbekannt war.

Rose Guttmann konnte sich damals eine solche Tour nicht zumuten, weil ihr Herz etwas angegriffen war; sie fuhr für diese Tage nach Gräfenberg und sollte dann an der Grenzstation Mittelwalde wieder mit uns zusammentreffen. Unsere Schwester Rosa ergänzte an ihrer Stelle unsere Vierzahl. Leider gab es gleich zu Beginn eine empfindliche Störung. Ich verstauchte mir schon beim Aufstieg zum Schneeberg einen Fuß und konnte nur unter den größten Beschwerden die Wanderung fortsetzen. Bergan ging es etwas leichter; darum gab ich mir immer Mühe, beim Steigen den Zeitverlust wieder einzubringen, den ich bei jedem Weg bergab verursachte. Denn beim Hinuntergehen war jeder Schritt eine Qual und während es sonst meine größte Freude war, in vollem Lauf die Berge hinunter zu springen, mußte ich jetzt mühselig Fuß vor Fuß setzen. Hans war empört. Die schöne Tour, auf die er sich so lange gefreut hatte, war ihm nun ganz verdorben. Wenn ich streckenweise rasch voranschritt, so sah er darin kein Zeichen guten Willens, sondern sagte: „Da sieht man es ja, daß sie kann, wenn sie will“. Er rannte in seinem gewöhnlichen Schritt voran und Erna ging mit ihm, obgleich ihr dabei sehr wenig wohl war. Die Arme hatte das Schlimmste auszuhalten. Sie mußte die Ausbrüche der bösen Laune ihres verwöhnten Freundes anhören und obendrein die Vorwürfe meiner Begleiterinnen, die über das Verhalten der beiden angehenden Ärzte entrüstet waren und sich von mir nicht zurückhalten ließen, ihnen gründlich ihre Meinung zu sagen. Natürlich steigerte sich das Übel mit jedem Tage. Als wir am Schluß noch mehrere Stunden lang eine sehr steile und steinige Schlucht zur Bahnstation hinuntergehen mußten, legte Lilli fest den Arm um mich und trug mich mehr als daß ich ging.

Dabei kamen wir durch die herrlichsten Gebirgslandschaften, und wenn das vorauseilende Pärchen außer Sicht war, dann vergaßen

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/94&oldid=- (Version vom 31.7.2018)