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Kreuzesvisionen

(Das ist wohl verständlich, da der Herr selbst dieser Seele etwas von Seinen innersten Geheimnissen mitgeteilt hatte: die Gnade, die ihm bei seiner ersten hl. Messe gewährt wurde.) Wir wissen nicht, ob der Heiland Worte gesprochen hat, als Er sich so tief vom Kreuz herabbeugte. Aber sicherlich hat ein Austausch von Herz zu Herz stattgefunden. Es war in der Zeit, ehe der Kampf der Beschuhten gegen die Reform einsetzte, dessen Opfer Johannes mehr als alle anderen werden sollte.

Die zweite Erscheinung, gegen Ende seines Lebens, fand in Segovia statt. Er hatte seinen geliebten Bruder Francisco dorthin gerufen. Diesem verdanken wir den Bericht: „.... Als ich 2 oder 3 Tage da war, bat ich ihn, mich abreisen zu lassen. Er sagte mir, ich sollte noch einige Tage länger bleiben, er wüßte nicht, wann wir uns wiedersehen würden. Und dies war das letztemal, daß ich ihn sah. Eines Abends nach dem Abendessen nahm er mich bei der Hand und führte mich in den Garten, und als wir allein waren, sagte er zu mir: ,Ich will dir etwas anvertrauen, was mir mit unserm Herrn begegnet ist. Wir hatten im Kloster ein Kruzifix[1], und eines Tages, als ich mich davor befand, schien es mir, daß es passender in der Kirche angebracht würde. Er war mein Wunsch, daß es nicht nur von den Mönchen, sondern auch von denen draußen geehrt würde. Und ich machte das, wie mir der Gedanke gekommen war. Nachdem ich es in der Kirche, so passend ich konnte, angebracht hatte, stand ich eines Tages im Gebet davor – da sprach Er zu mir: Bruder Johannes, bitte mich um das, was ich dir für den Dienst gewähren soll, den du mir erwiesen hast! Und ich meinerseits sagte Ihm: Herr, was ich von Dir haben möchte, das sind Leiden, die ich für Dich zu ertragen hätte, und daß ich verachtet und geringgeschätzt würde’“[2].


  1. P. Bruno gibt an, es sei ein kreuztragender Jesus gewesen, auf Leder gemalt (Vie d’Amour de Saint Jean de la Croix, Paris 1936, S. 238). Er hat dieses Bild in dem Buch Saint Jean de la Croix (S. 336) veröffentlicht. Sollte aber der Heilige wirklich für ein solches Bild den Ausdruck crucifijo gebraucht haben?
  2. Thomas Perez de Molina hat die Aussage Franciscos, der nicht schreiben konnte, nach seinem Diktat niedergeschrieben. Nach seiner Erinnerung lauteten die Worte: „Herr, daß alle meine Ehre angreifen und nichts von mir halten möchten um Deiner Liebe willen“ (Vgl. Vie d’Amour, S. 239). Wir haben den ganzen Bericht möglichst wortgetreu wiedergegeben, um ihm nichts von seiner rührenden Schlichtheit zu nehmen und das innige Verhältnis der beiden Brüder daraus hervorleuchten zu lassen. Sie waren das ganze Leben hindurch aufs engste verbunden. Im Anfang der Reform hatte Johannes seine Mutter und den Bruder mit seiner Frau nach Durvelo gerufen, um den Haushalt zu versorgen. Die Mutter kochte, die Schwägerin wusch, der Bruder kehrte die Zellen. Das mag auf den ersten Blick überraschen bei einem Heiligen, der so streng die Loslösung von [20] allen Geschöpfen fordert. Aber es liegt gewiß kein Widerspruch darin. Wenn Johannes so handelte, dann konnte er es sich wohl leisten: er empfand das Zusammensein mit seinen Lieben nicht als Hindernis im beschaulichen Leben. Ihre Beziehungen waren vermutlich schon von den Kindertagen an so sehr ins Übernatürliche erhoben, daß sie keine Fessel mehr bedeuteten. Und wo die Nächsten dem Blut nach auch die Nächsten im Geist sind, da ergibt sich eine Leichtigkeit des Verstehens, die wie ein Vorgeschmack der himmlischen Seligkeit ist. So erklären sich auch die vertraulichen Mitteilungen.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/019&oldid=- (Version vom 31.7.2018)