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Dunkle Nacht der Sinne

Eine gewisse Berührung zwischen Nacht und Kreuz ließe sich wohl schon auf Grund dieses kurzen Überblicks herausstellen; das Verhältnis wird aber noch deutlicher werden, wenn wir die Phasen der Nacht nun im einzelnen betrachten.


b) Aktives Eingehen in die Nacht als Kreuzesnachfolge

Der Ausgangspunkt oder der erste Abschnitt wird von dem Heiligen dunkle Nacht der Sinne genannt[1]. Das, worauf es hier eigentlich ankommt, ist die Ertötung der Freude am Verlangen nach allen Dingen. Es kann sich ja nicht darum handeln, nicht mehr mit den Sinnen wahrzunehmen. Sie sind die Fenster, durch die in die Kerkerfinsternis unseres leibgebundenen Lebens das Licht der Erkenntnis fällt; und die können wir nicht entbehren, solange wir leben. Aber wir müssen lernen zu sehen und zu hören usw., als sähen und hörten wir nicht. Die Grundeinstellung zur sinnenfälligen Welt muß eine andere werden. Diese Grundeinstellung ist beim natürlichen Menschen durchschnittlich durchaus keine reine Erkenntnishaltung – er steht vielmehr in der Welt als Begehrender und als Mann der Tat. Tausendfach ist er mit ihr verknüpft, weil sie ihm bietet, was sein Verlangen stillt, ihn zu Taten anregt und selbst der Stoff seiner Taten ist. Im allgemeinen läßt er sich in seinem Tun und Treiben von Trieben und Begierden leiten, in Nahrung und Kleidung, Arbeit und Ruhe, Spiel und Erholung, im Verkehr mit andern. Er fühlt sich glücklich und zufrieden, wenn er auf keine außerordentlichen Hindernisse stößt. Keine außerordentlichen – denn daß ein hemmungsloses Ausleben in dieser Welt nicht möglich ist, das ist ihm normalerweise von Jugend an so vertraut, daß es ihm zur zweiten Natur geworden ist. Er weiß durch Erziehung und Erfahrung, daß ungehemmte Triebbefriedigung der eigenen Natur verderblich ist, und wird schon durch die gesunde Vernunft zu einer gewissen freiwilligen Einschränkung und Regelung geführt. In gleicher Richtung wirkt die Rücksicht auf andere, die sich im natürlichen Gemeinschaftsleben als unabweisliche Forderung aufdrängt, das natürliche Recht und das natürliche Sittengesetz. Durch alle das wird aber das natürliche Recht der Triebe nicht angetastet, es wird nur mit andern Rechten in Ausgleich gebracht. Mit dem Einsetzen der Dunklen Nacht dagegen beginnt etwas ganz Neues: das ganze behagliche Zuhausesein in der Welt,


  1. Sie wird behandelt im I. Band des Aufstiegs zum Berge Karmel und im I. Teil der Dunklen Nacht, der Die dunkle Nacht der Sinne überschrieben ist.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/040&oldid=- (Version vom 3.8.2020)