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Passive Nacht als Gekreuzigtwerden

Seele nicht mehr durch die Sinne mit, wie Er es vorher mittels des forschenden Nachdenkens tat...., sondern Er hat jetzt begonnen, sich mittels des reinen Geistes mitzuteilen, wobei ein Aufeinanderfolgen von Gedanken nicht mehr stattfindet, nämlich mittels des Aktes der einfachen Beschauung, zu der weder die inneren noch die äußeren Sinne des sinnlichen Menschen eine Befähigung haben“. Diese dunkle und für den sinnlichen Mensch trockene Beschauung ist „etwas Verborgenes und auch für den, der sie besitzt, geheimnisvoll....“[1] Gewöhnlich verleiht sie „der Seele eine Neigung und ein Verlangen nach Einsamkeit und Ruhe, ohne daß sie an etwas Bestimmtes denken könnte noch auch wollte“[2]. Würden die Seelen sich nun ruhig verhalten, „so würden sie gar bald in dieser Ruhe und in diesem Vergessen aller Dinge jene überaus köstliche innere Erquickung empfinden. Diese Erquickung ist nämlich so zart, daß sie die Seele gewöhnlich nicht fühlt, wenn sie ein übermäßiges Verlangen danach trägt oder in besonderer Weise um deren Genuß besorgt ist.... Sie gleicht der Luft, die sogleich entschwindet, wenn man sie mit der Hand erfassen will .... Gott behandelt die Seele in diesem Stande in der Weise und führt sie auf einem so eigenartigen Wege, daß sie das Werk Gottes, .... wenn sie aus eigener Kraft und Fähigkeit wirken will, eher hindert als fördert“. Der Friede, den Gott ihr durch die Trockenheit des sinnlichen Menschen schenken will, ist „geistig und überaus köstlich“ und „Sein Wirken ruhig, zart, still, befriedigend und friedevoll, von den früheren Genüssen, die mehr fühlbar und sinnlich wahrnehmbar waren, durchaus verschieden“[3]. So ist es zu verstehen, daß nur das Sterben des sinnlichen Menschen gespürt wird und nicht der Anbruch eines neuen Lebens, der sich darunter verbirgt.

Es ist keine Übertreibung, wenn wir die Leiden der Seelen in diesem Zustand ein Gekreuzigtwerden nennen. In ihrer Unfähigkeit, ihre Kräfte zu gebrauchen, sind sie wie festgenagelt. Und zu der Trockenheit kommt die Qual der Furcht, sie seien auf einem Irrweg. „Sie leben in dem Glauben, alle geistlichen Güter verloren zu haben und von Gott verlassen zu sein“. Sie mühen sich ab, auf die frühere Weise tätig zu sein, können aber damit nichts ausrichten und stören nur den Frieden, den Gott in ihnen wirkt. Sie sollten


  1. a. a. O. II 31.
  2. a. a. O. II 30.
  3. a. a. O. § 10 (Kap. 9), E. Cr. II 31.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/045&oldid=- (Version vom 15.12.2020)