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Dunkle Nacht der Sinne

Sinne Anteil gewinnen. Sie kehrt aber zeitweise noch zur Betrachtung zurück. Und auch die Freuden wechseln mit schmerzlichen Heimsuchungen. Vor dem Eintritt in die Nacht des Geistes kommen zur Trockenheit und Leere noch schwere und schmerzliche Prüfungen durch peinliche Versuchungen: der Geist der Unlauterkeit und der Gotteslästerung bemächtigt sich ihrer Einbildungskraft, und ein Geist des Schwindels stürzt sie in tausend Skrupeln, in Verwirrung und Ratlosigkeit. Durch diese Stürme sollen die Seelen erprobt und gestählt werden. Es werden aber nicht alle gleich schwer geprüft. Viele gelangen über diesen Übergangszustand überhaupt nicht hinaus. Doch die ans Ziel gelangen sollen, müssen viel ertragen. Je höher der Grad der Liebesvereinigung ist, zu dem Gott sie emporführen will, um so gründlicher und langdauernder pflegt die Reinigung zu sein. Denn auch den Fortgeschrittenen haften noch viele gewohnheitsmäßige Unvollkommenheiten an, von denen sie durch die Nacht des Geistes befreit werden müssen. Mit dem Geist zusammen werden auch die Sinne erst völlig gereinigt werden. Denn in ihm haben die Unvollkommenheiten ihre Wurzeln[1].

Die Darstellung des Reinigungsweges zeigt deutlich, daß diese Nacht nicht ohne Licht ist, wenn ihm auch die Augen der Seele noch nicht angepaßt sind und es nicht wahrnehmen können. In den verhältnismäßig kurzen Ausführungen, die Johannes der Nacht der Sinne widmet, werden die wertvollen Früchte der Nacht stark hervorgehoben. Aber das steht nicht im Gegensatz zur Kreuzesbotschaft. Es wurde ja schon früher daran erinnert, daß der Heiland an die Ankündigung Seines Leidens und Sterbens am Kreuz die frohe Botschaft von der Auferstehung schloß. Nach der Liturgie der Kirche geht es per passionem et crucem ad resurrectionis gloriam. Mit dem Tod des Sinnenmenschen hält das Erstehen des Geistesmenschen Schritt. Aber diese wunderbare neue Geburt ist bisher nur angedeutet worden. Johannes hat sich in der Darstellung der ersten Nacht kurz gefaßt, weil er Eile hat, zur Nacht des Geistes zu gelangen. Sie ist sein Hauptgegenstand. Darum ist es besser, das Verhältnis von Tod und Auferstehung erst nach der Dunklen Nacht des Geistes zu behandeln.



  1. Vgl. Die Nacht des Geistes, § 3 (Kap. 3), E. Cr. II, 55.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/048&oldid=- (Version vom 3.8.2020)