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Entblößung der geistigen Kräfte in der aktiven Nacht

besondere Vorliebe dafür, daß die Menschen wiederum durch Menschen .... geleitet.... werden und daß der Mensch sich regieren lasse durch die natürliche Vernunft. Darum verlangt er durchgehends, daß wir den Wahrheiten, die Er uns auf übernatürlichem Wege mitteilt, keinen vollen Glauben beimessen sollen ...., solange sie nicht durch .... den Mund des Menschen zu uns gelangt sind. Sooft Er darum der Seele etwas mitteilt oder offenbart“, flößt Er ihr „eine gewisse Neigung dazu ein, es jenen mitzuteilen, die ein Recht darauf haben“. „Denn wo immer sich mehrere Menschen zusammenfinden, um sich über die Wahrheit zu besprechen, da gesellt Er sich zu ihnen und erleuchtet und festigt sie in der Wahrheit ....“[1]

Zu dem, was der Verstand mit Hilfe der äußeren oder inneren Sinne wahrnimmt, kommen rein geistige Mitteilungen: sie bieten sich dem Verstand ohne jede Vermittlung eines äußeren oder inneren Sinnes und ohne sein eigenes Zutun „klar und bestimmt auf übernatürlichem Wege dar, in reinem Empfangen, d.h. die Seele unternimmt nicht das Mindeste und trägt ihrerseits nichts dazu bei, wenigstens nicht selbständig und wie aus Eigenem“. Johannes unterscheidet geistige Visionen, Offenbarungen, Ansprachen und Empfindungen, faßt aber alle vier zusammen unter dem Namen intellektuelle Visionen, weil bei allen ein geistiges Schauen vorliegt. Im engeren Sinn heißt Vision, was nach Art des körperlichen Sehens geistig geschaut wird; entsprechend kann Offenbarung genannt werden, was nach Art eines noch nie vernommenen Lautes vom Verstand neu erfaßt wird; was nach Art des Hörens aufgenommen wird, heißt Ansprache, was nach Art der andern Sinne wahrgenommen wird, geistige Empfindung. Bei all dem spielt keine Form, kein Bild und keine Gestalt ein Rolle, es ist eine Mitteilung durch übernatürliches Eingreifen und übernatürliche Vermittlung. Obgleich diese Wahrnehmungen von höherer Art und viel nützlicher sind als jene, die man durch die leiblichen Sinne oder die Einbildungskraft erhält, soll man sich doch nicht damit abgeben, denn auch durch sie „verliert der Verstand an Schärfe und versperrt sich .... den Weg zur Einsamkeit und Entblößung....“[2] Die Visionen können körperliche wie unkörperliche Wesen vor das geistige Auge stellen. In einem gewissen übernatürlichen Licht kann die Seele alle körperlichen Dinge schauen, die es im Himmel und auf Erden gibt. Die unkörperlichen Wesen (Gott, Engel, Seelen) können nur im Glorienlicht geschaut werden, also nicht in diesem Leben. „Wollte sie Gott


  1. a. a. O. B. II Kap. 20, E. Cr. I 210 ff.
  2. a. a. O. B. II Kap. 21, E. Cr. I 223 f.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/062&oldid=- (Version vom 3.8.2020)