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Natürliche Geistestätigkeit. Die Seele, ihre Teile und Kräfte

Geistestätigkeit erörtert werden. Andererseits erweist der Glaube durch sein eigenes Dasein die Möglichkeit eines über das Natürliche erhabenen geistigen Seins und Tätigseins, und so führt die Erläuterung dessen, was er ist, zu einer neuen Sicht des Geistes. Daraus wird es verständlich, daß an verschiedenen Stellen in verschiedener Weise vom Geist gesprochen werden muß. Dem oberflächlichen Blick mag das als Widerspruch und Unausgeglichenheit erscheinen. In Wahrheit ist es sachliche Notwendigkeit. Denn sofern geistiges Sein Leben und Wandlung ist, läßt sich seine Erkenntnis nicht in starre Definitionen einfangen, sondern muß selbst fortschreitende Bewegung sein und sich einen fließenden Ausdruck suchen. Das gilt auch vom Glauben. Er ist ja selbst geistiges Sein und darum Bewegung: ein Aufstieg in immer unfaßlichere Höhe und Abstieg in immer abgründigere Tiefe. Darum muß die Erkenntnis versuchen, seiner durch mannigfachen Ausdruck habhaft zu werden, soweit sie ihn überhaupt zu fassen vermag.


b) Natürliche Geistestätigkeit. Die Seele, ihre Teile und Kräfte

An erster Stelle ist also die natürliche Geistestätigkeit zu klären. Sie ergibt sich aus dem Gesamtbau des seelisch-geistigen Seins. Dieses sucht Johannes zu fassen mit den überlieferten Begriffen der scholastischen Psychologie, die ihm jedenfalls von seiner Studienzeit in Salamanca her geläufig waren. Die Seele ist ein Wirkliches mit mannigfachen Kräften: niederen und höheren oder sinnlichen und geistigen. Im niederen wie im höheren Teil gliedern sich die Kräfte in erkennende und strebende. (Das ist bei Johannes nicht ausgesprochen, ist aber für seine Darstellung vorausgesetzt.) Die Sinne sind leibliche Organe, doch zugleich die Fenster der Seele, durch die sie Kenntnis von der Außenwelt gewinnt. Die Sinnlichkeit ist also dem Leib und der Seele gemeinsam, die leibliche Seite wird aber von Johannes verhältnismäßig wenig berücksichtigt. Zur Sinnlichkeit gehört außer den Eindrücken, die eine Kenntnis der sinnenfälligen Welt vermitteln, das Genießen und Begehren, das durch die Sinneseindrücke in der Seele hervorgerufen wird. Wie schon früher hervorgehoben wurde, hat es die Nacht der Sinne in erster Linie mit der Sinnlichkeit in dieser zweiten Bedeutung zu tun: vom Verlangen oder Begehren nach sinnlichem Genuß soll die Seele in der ersten Nacht sich befreien, bzw. gereinigt werden. Diese Beschränkung ist durchaus berechtigt, weil Genießen und Begehren schon auf der Stufe eines rein sinnlichen Seelenlebens möglich ist (also auch beim

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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/099&oldid=- (Version vom 3.8.2020)