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Passive Nacht des Geistes

und Beängstigung meines Gedächtnisses habe ich mich in der Dunkelheit dem reinen Glauben, dieser dunklen Nacht für die genannten natürlichen Kräfte, überlassen. Während mein Wille allein von Schmerz, Betrübnis und Sehnsucht nach der Liebe Gottes erfüllt war, ging ich von mir selbst aus, d.h. von meiner niedrigen Erkenntnisweise, von meiner schwachen Liebe und von meiner dürftigen und spärlichen Art, Gott zu genießen, ohne daß die Sinnlichkeit oder der böse Feind mich daran hinderten. Das war ein großes Glück .... für mich. Denn sobald ich die Vermögen, die Leidenschaften, Begierden und Neigungen meiner Seele, wodurch ich so gering von Gott dachte und so spärlichen Genuß in Ihm fand zunichte gemacht und beschwichtigt hatte, entwich ich meinem dürftigen, menschlichen Verkehr und Wirken und ging zu einem Verkehr und Wirken mit Gott über, d.h. mein Verstand ging aus sich und wurde aus einem menschlichen und natürlichen ein göttlicher. Er vereinigte sich mit Gott .... und ist nun nicht mehr durch eigene, natürliche Kraft tätig, sondern durch die göttliche Weisheit, mit der er sich vereinigte. Auch mein Wille ging von sich aus und wurde ein göttlicher. Vereint mit der göttliche Liebe liebt er nicht mehr in niedriger Weise mit seiner natürlichen Kraft, sondern in der Kraft und Reinheit des Heiligen Geistes.... In ganz gleicher Weise hat sich auch das Gedächtnis ganz umgewandelt und hingewendet zu Vorstellungen des ewigen Lebens.... Alle Kräfte und Neigungen der Seele werden mittels dieser Nacht und Reinigung des alten Menschen ganz und gar erneuert (und genießen) göttliche Harmonie und Freuden“[1].

Die Reinigung aber ist nicht nur Nacht, sondern auch Pein und Qual, und zwar aus zwei Ursachen: „Die erste ist die Erhabenheit der göttlichen Weisheit, welche die Fassungskraft der Seele übersteigt: auf diese Weise ist sie Finsternis. Die zweite ist die Niedrigkeit und Unreinheit der Seele; so ist sie peinlich, schmerzlich und dunkel“[2]. Durch das außerordentliche, übernatürliche Licht „wird die natürliche Erkenntniskraft der Seele überwältigt und ausgelöscht“. So kommt es, daß Gott, „wenn Er diesen hellglänzenden Strahl Seiner geheimnisvollen Weisheit in die noch nicht umgewandelte Seele einströmen läßt, dunkle Finsternis im Verstand verursacht“. Die Pein und Qual der Seele rührt daher, daß die „göttliche eingegossene Beschauung ein Fülle von äußerst erhabener Vollkommenheit in sich begreift; die noch nicht gereinigte Seele


  1. Dunkle Nacht, Die dunkle Nacht des Geistes, Str. 1 § 3 Kap. 4, E. Cr. II 57 f.
  2. a. a. O. § 3 Kap. 5, E. Cr. II 59.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/109&oldid=- (Version vom 3.8.2020)