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Tod und Auferstehung

Die geheime Leiter

Die geheime Leiter ist die dunkle Beschauung: geheim als die mystische Gottesweisheit, die durch die Liebe auf geheimnisvolle Weise eingegossen wird; wie es geschieht, weiß „weder die Seele selbst noch sonst jemand, ja auch der böse Feind hat keine Kenntnis davon; denn der Lehrmeister, der sie lehrt, ist selbst wesenhaft in der Seele, wohin weder der böse Feind noch das natürliche sinnliche Erkenntnisvermögen noch auch der Verstand dringen können“. Geheim oder verborgen ist diese Weisheit auch in ihren Wirkungen: in den Finsternissen und Bedrängnissen der Reinigung wie in der folgenden Erleuchtung. Die Seele kann sie da „weder erkennen noch erklären noch auch beim Namen nennen“. Sie hat auch „gar kein Verlangen, ihr einen Namen zu geben, und findet .... kein Mittel, um in genügender Weise eine so erhabene Erkenntnis und eine so zarte geistige Empfindung zum Ausdruck zu bringen...., denn jene innere Weisheit ist so einfach, allgemein und geistig, daß sie in keinen Begriff gefaßt noch als Sinnenbild dargestellt in den Verstand eingetreten ist.... Es ist gerade so, wie wenn jemand etwas noch nie Gesehenes zu Gesicht bekommen würde und auch noch nie etwas diesem Ähnliches erblickt hätte.... Er könnte ihm trotz aller Mühe keinen Namen geben noch auch sagen, was es sei, wenn er es auch mit den Sinnen wahrgenommen hätte. Um wieviel weniger wird er sich dann über etwas aussprechen können, was er nicht durch die Sinne in sich aufgenommen hat?“ Da Gott ganz im Innern und rein geistig zur Seele spricht, geht dies über alle Fähigkeit der äußeren und innern Sinne hinaus und macht sie verstummen. Die Sinne verstehen diese Sprache nicht, können sie nicht mit Worten wiedergeben und haben auch kein Verlangen, sie zu hören.

Die mystische Weisheit wird auch darum geheim genannt, „weil sie die Eigenschaft besitzt, die Seele in sich zu verbergen, .... sie bemächtigt sich manchmal der Seele derart und zieht sie in einer Weise in ihren verborgenen Abgrund, daß diese deutlich erkennen kann, wie weit entfernt sie von allen Geschöpfen ist. So kommt es ihr vor, als habe man sie in eine sehr tiefe und weite Einsamkeit versetzt, wohin kein menschliches Wesen dringen kann, in eine unermeßliche Wüste, die nach keiner Seite hin begrenzt ist. Und diese ist ihr um so angenehmer, wohltuender und lieblicher, je tiefer, weiter und einsamer sie ist. Da fühlt sich die Seele um so verborgener, je mehr sie sich erhoben sieht über jedes geschaffene Wesen. Und dieser Abgrund der Weisheit erhebt und bereichert die Seele in hohem Maße:

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/124&oldid=- (Version vom 7.1.2019)