Seite:Edith Stein - Kreuzeswissenschaft.pdf/216

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Der Seele Brautgesang

Stellen ist doch offenbar auch das äußere Wort als Wort Gottes im buchstäblichen Sinn zu verstehen. So ist es nach seiner Aussage in manchen Fällen auch bei Johannes gewesen. Doch auch wenn er selbst nach dem Ausdruck suchte, ist die Mithilfe des Heiligen Gei­stes nicht ausgeschlossen. Die Lebhaftigkeit seiner künstlerischen Einbildungskraft, gesteigert durch das unnatürliche Abgeschnitten­sein von allem, was die äußeren Sinne befriedigen konnte, mochte ihm eine Fülle farbenprächtiger Bilder vor die Seele zaubern. Wenn aber diese Bilder mit dem zusammenklingen, was er innerlich er­fährt, so ist das nicht mehr auf die Einbildungskraft zurückzufüh­ren und auch nicht auf ein willkürliches Deuten: er findet in den Bildern den gesuchten Ausdruck für das Unsagbare, der Heilige Geist schließt ihm den geistigen Sinn der bunten sinnenfälligen Fül­le auf und leitet ihn bei seiner Wahl. Daher ist die Einheitlichkeit des Ganzen zu verstehen und eine innere Überzeugungskraft der Bilder. Allerdings gilt das nicht für alle. Manche sind sicher rein natürlich gewählt und selbst im peinlichen Sinn des Wortes gesucht. Noch etwas häufiger als für die Bilder trifft das wohl für die nach­kommenden Erklärungen zu.

Die Welt, in die uns der Gesang einführt, ist die Welt, wie sie sich der sehnsuchterfüllten, liebestrunkenen Seele darstellt. Sie geht nur aus, um den Geliebten zu suchen. Überall ist sie bemüht, Spu­ren von Ihm zu entdecken, alles gemahnt sie an Ihn und hat für sie nur so weit Bedeutung, als es von Ihm Kunde gibt oder Ihm Bot­schaft bringen kann. Wie der Hirsch am Waldrand flüchtig auf­taucht und schnell wieder entspringt, sobald ein Menschenauge ihn erblickt, so war der Herr bei den ersten Begegnungen: Er zeigte sich der Seele, aber Er war entschwunden, ehe sie Ihn fassen konnte. Der kristallklare Quell, der die Umherirrende labt, das ist für sie der Glaube: rein ist die Wahrheit, die er spendet, frei von aller Trü­bung durch Irrtum, und aus ihm strömt ihr das Wasser des Lebens zu, das fortsprudelt zum ewigen Leben (Joan. 4, 14). Sehnsüchtig beugt sie sich darüber: könnten ihr nicht aus diesem klaren Spiegel die Augen des Geliebten entgegenleuchten? Seine Augen – das sind die göttlichen Strahlen, die sie im Innersten trafen, erleuchteten und entflammten. Sie fühlt sich immer unter ihrem Blick: so sind sie ihr ins Innerste gezeichnet. Das alles ist aus der Gesamtsituation anschaulich verständlich. Wenn uns aber darüber hinaus die Er­klärung sagt, das Antlitz seien die Glaubensartikel, die uns die göttlichen Wahrheiten (Strahlen) verhüllt und unvollkommen dar­stellen: dies Antlitz werde „silberhell“ genannt, weil das reine Gold der Wahrheit uns im Glauben von Silber verdeckt dargeboten

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/216&oldid=- (Version vom 6.1.2019)