Wir haben im Kreuz das Wahrzeichen des Leidens und Sterbens Christi gesehen und alles dessen, was damit in ursächlichem und in Sinnzusammenhang steht. Dabei ist auf der einen Seite an die Frucht des Kreuzestodes zu denken: die Erlösung. Wir werden aber hier darauf hingewiesen, daß im innigsten Zusammenhang damit die Menschwerdung steht als Bedingung des erlösenden Leidens und Sterbens und der Sündenfall als Beweggrund zu beiden. Es ist früher der Gedanke ausgesprochen worden, daß die Leiden der Dunklen Nacht Anteil seien am Leiden Christi, vor allem am tiefsten Leiden: der Gottverlassenheit. Das hat durch den Geistlichen Gesang eine nachdrückliche Bestätigung erhalten, da hier das sehnsüchtige Verlangen nach dem verborgenen Gott das Leiden ist, das den ganzen mystischen Weg beherrscht. Es hört selbst in der Seligkeit der bräutlichen Vereinigung nicht auf; ja in gewisser Weise nimmt es mit der wachsenden Gotteserkenntnis und -liebe noch zu, weil mit ihr die Vorahnung dessen, was die klare Anschauung Gottes in der Glorie uns bringen soll, immer fühlbarer wird. (Das wird durch die zweite Fassung scharf herausgearbeitet.) Welcher menschliche Sehnsuchtsschmerz aber kann sich messen mit dem Leiden des Gottmenschen, der Sein ganzes Leben hindurch im Besitz der seligen Gottesschau war, bis er sich kraft freien Willensentschlusses in der Ölbergsnacht dieses Genusses beraubte? Sowenig ein Menschengeist und ein Menschenherz ausdenken und erfühlen können, was die ewige Seligkeit ist, sowenig vermögen wir einzudringen in das unergründliche Geheimnis einer solchen Beraubung. Er allein, der Einzige, der sie erfahren hat, kann denen, die Er dafür erwählt, etwas davon zu kosten geben in der Vertraulichkeit der bräutlichen Vereinigung. Die Gottverlassenheit in ihrer ganzen Tiefe war Ihm ausschließlich vorbehalten und konnte von Ihm nur gelitten werden, weil Er Gott und Mensch zugleich war, als Gott konnte Er nicht leiden, als reiner Mensch hätte Er das Gut, dessen Er sich beraubte, nicht fassen können. So ist die Menschwerdung Bedingung dieses Leidens, die menschliche Natur als leidensfähige und wirklich leidende, Werkzeug der Erlösung. Beweggrund des erlösenden Leidens und darum auch der Menschwerdung ist die menschliche Natur als dem Fall ausgesetzte und tatsächlich gefallene[1]. Durch den Sündenfall hat sie in den ersten Menschen ihre
- ↑ Wir sehen in der Sünde und Erlösungsbedürftigkeit nicht den einzigen Beweggrund der Menschwerdung. Diese scheint uns schon in der Hinordnung der Schöpfung auf die Vollendung durch Christus hinreichend begründet. Auch Johannes vom Kreuz kennt eine Begründung der Menschwerdung unabhängig vom Sündenfall. Vgl. die Romanzen, Obras IV 328 ff.
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/227&oldid=- (Version vom 6.1.2019)