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Kreuzesnachfolge

Die vollkommene Befriedigung der Seele, aus der diese Gesänge aufsteigen, offenbart sich nicht nur im Gedankengehalt, sondern auch in der dichterischen Form. Ihre Stille und Einfalt ist der Naturlaut eines Herzens, das sich in diesen reinen Klängen völlig zwanglos und ohne jedes willkürliche Bemühen öffnet, wie die Nachtigall singt, wie eine Blüte sich erschließt. Sie sind vollendete Kunstwerke, weil nichts von Kunst an ihnen zu spüren ist[1].

Das Gleiche läßt sich wohl nur noch von zwei andern Gedichten sagen: dem Lied vom Hirten (pastorcico) und dem Gesang vom drei faltigen Quell[2]. Doch sind sie in Gehalt und Form von den beiden andern Gesängen und auch von einander verschieden. Im Hirtenlied kommt nicht unmittelbar die Bewegung der Seele zum Ausdruck. Der Dichter hat ein Bild geschaut und in eine künstlerische Form gefaßt. Er sieht Christus den Gekreuzigten, er hört Seine Klage um die Seelen, die „Seine Liebe stolz gemieden“. Er formt daraus ein Hirtenlied, wie seine Zeit es liebt, wie er es im großen Stil auch in seinem Cantico geschaffen hat. Wenn dort das Hohenlied die Anregung gab – hat hier nicht der Gedanke an den Guten Hirten mitgewirkt, der Sein Leben läßt für Seine Schafe? (Joan. 10) Und ist die Klage des Hirten über die spröde Hirtin nicht ein Widerhall jenes schmerzlichen Rufes, als der Heiland um Jerusalem weinte? (Matth. 23,37) Die immer wiederkehrenden Worte El pecho del amor muy lastimado („Das Herz belastet von der Liebe Plagen“) geben die Grundstimmung. Sie kommen aus einem Herzen, das sich selbst vergessen hat und eingegangen ist in das Herz des Erlösers. Es ist das reine Leiden einer von sich selbst befreiten und mit dem Gekreuzigten vereinten Seele, das daraus spricht. (Damit stimmt der Bericht überein, daß er in Segovia während einer Karwoche unfähig war, das Haus zu verlassen, weil er so sehr vom Mitleiden der Passion ergriffen war[3].)

Im Lied vom Urquell singt die Seele wieder von etwas, was sie selbst im Innersten bewegt, wie in der Dunklen Nacht und in der Liebesflamme. Aber was sie bewegt, ist nicht wie dort ihr eigenes Geschick, sondern das innerste Leben der Gottheit, wie es ihr der Glaube offenbart: der ewige flutende Quell, dem alle Wesen entstammen, der ihnen allen Licht und Leben spendet; der aus sich


  1. Damit steht nicht im Widerspruch, daß Johannes formal von den Dichtern seiner Zeit beeinflußt ist, gelegentlich auch wörtliche Anlehnungen zeigt. Zur literarischen Bewertung der Gedichte vgl. die Einleitung von P. Silverio im IV. Bd. der Werke S. LXXIX ff. und Baruzi a.a.O. 107 ff.
  2. Obras IV 323 f.
  3. P. Bruno, Saint Jean, S. 329.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/259&oldid=- (Version vom 6.1.2019)