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Dies alles setzt Meisterschaft voraus: objektive Meisterschaft in Beherrschung der Problemstellung; subjektive Meisterschaft durch Aufstieg zum Ziel auf dem Wege des Kreuzes. E. Stein hat sie als geistliche Tochter des hl. Johannes errungen. Und darum sind ihre Worte über den Ordensvater rückbezüglich auf sie selbst:

„Wenn der Dichter in den farbenglühenden Bildern des alttestamentlichen Sängers reichliche Anregung fand, so konnte der Theologe noch aus einer andern ergiebigen Quelle schöpfen. Die Seele eins mit Christus, lebend von Seinem Leben – aber nur in der Hingabe an den Gekreuzigten, nur wenn sie den ganzen Kreuzweg mit Ihm gegangen ist: das ist nirgends klarer und eindringlicher ausgesprochen als in der Botschaft des hl. Paulus. Er hat schon eine ausgebildete Kreuzeswissenschaft, eine Theologie des Kreuzes aus innerster Erfahrung“.

„.... So können auch wir nur mit heiliger Scheu diesen göttlichen Geheimnissen im Innersten einer auserwählten Seele nahen. Nachdem einmal der Schleier gelüftet wurde, ist es aber nicht erlaubt, davon zu schweigen. Wir haben ja hier das vor uns, was Aufstieg und Nacht – so wie sie uns vorliegen – uns schuldig geblieben sind: die Seele am Ziel des langen Kreuzwegs, in der beseligenden Vereinigung.

Es wurde früher gesagt, daß .... die .... Schriften offenbar von jemandem verfaßt sind, der bereits am Ziel angelangt ist“[1].

E. Steins religiöse und philosophische Blickrichtung. In der Perspektive welcher Leitgedanken wird die Autorin von der Gestalt des hl. Johannes und seiner Lehre ergriffen und greift sie ihrerseits das Thema auf? Ihr Interesse zu diesem Zeitpunkt ist in erster Linie der Auseinandersetzung mit den Kernproblemen der Kreuzeswissenschaft zugewandt: Aufstieg der Seele zu Gott durch Kreuzigung in der aktiven und passiven Nacht und bräutliche Vereinigung der Seele mit Gott. Im Zusammenhang hiermit findet sie neues Gedankengut zur Herausarbeitung einer Philosophie der Person, dem Leitmotiv des Steinschen Forschens und Schaffens. Durch die Dualität der menschlichen Person (Leibgebundenheit des Geistes, Freiheit des Willens) wendet sich ihr forschender Blick in weiterer Folge der metaphysischen Forderung nach Wahrheit zu: der Einheit zwischen philosophischer Erkenntnis und Weltanschauung einerseits, der Einheit zwischen Lehre und Leben, d.h. Leben im Sinne der Lehre, andererseits.


  1. Siehe Kreuzeswissenschaft, S. 14 u. 167.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/296&oldid=- (Version vom 9.3.2019)