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Die ontische Struktur der Person...

gewinnt alle Fülle von dem Reich, dem es sich kraft seiner Freiheit hingibt.

Von einem Reich der Freiheit zu sprechen, ist darum eigentlich nicht möglich, denn dieses Reich hat keine Dimensionen, es ist auf einen Punkt zusammengezogen. Die Person, nur als freies Subjekt genommen, ist keiner seelischen Bewegung fähig, alles seelische Leben spielt sich in einem Reich ab, das Weite hat, und die Seele bedarf des Anschlusses an ein solches Reich, um sich darin entfalten zu können. Das freie Subjekt muß also, um mit seiner Freiheit etwas anfangen zu können, sie – jedenfalls teilweise – aufgeben; um Seele und Leben zu gewinnen, muß es sich an ein Reich binden. Was es von seiner Freiheit opfert und was es davon bewahrt, wofür es das Geopferte hingibt und welchen Gebrauch es von dem Bewahrten macht, das entscheidet über das Schicksal der Person.

Zunächst ist es klar, daß die Person sich dem Reich der Natur nicht entziehen kann, ohne sich einem andern Reich zu verschreiben. Das Sich-auf-sich-selbst-zurückziehen kann nie heißen: sich ganz und allein auf sich selbst stellen, wie es möglich scheinen mag, solange man die Leerheit des lediglich freien Subjekts nicht durchschaut hat[1]. Solange es in keinem andern Reich Fuß faßt, muß es zum Teil ans Reich der Natur gebunden bleiben. Das ist der Fall beim Übergang vom natürlich-naiven zum selbstherrlichen Leben. Das natürlich-naive Seelenleben – das von tierischer Struktur – ist unzentriert. Der Durchbruch zur personalen Struktur kennzeichnet sich durch die Gewinnung des Zentralpunktes, des Standortes, in dem sich das seelische Subjekt als Person frei aufrichten kann. Material wird dem Seelenleben durch diese Strukturveränderung nichts zugeführt. Der prinzipielle Unterschied gegenüber dem tierischen Stadium besteht darin, daß die Person die seelischen Eindrücke von jener Zentralstelle her entgegennehmen kann – kann, nicht muß – und die Reaktionen auf die empfangenen Eindrücke von daher vollziehen. Die Stellungnahmen, die auf der tierischen Stufe durch die Eindrücke


  1. Darum können auch die Engel, die von ihrer Freiheit Gebrauch machen und sich dem Dienst des Herrn entziehen wollen, sich nicht wahrhaft auf sich selbst stellen. Sie müssen notwendig aus dem Reich des Lichts in ein anderes Reich fallen und müssen es, weil sie es nicht vorfinden, aus sich heraus erzeugen. Es trägt die Spuren seines Ursprungs an sich: es ist rein durch den Gegensatz zu dem, dem es sich entzog, qualifiziert – als Finsternis, Leere, Mangel, Nichtigkeit.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/140&oldid=- (Version vom 31.7.2018)