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Die ontische Struktur der Person...

Wir suchten zu verstehen, welchen Anteil die Freiheit am Werk der Erlösung hat. Dazu reicht es nicht aus, wenn man die Freiheit allein ins Auge faßt. Man muß ebenso prüfen, was die Gnade vermag und ob es auch für sie eine absolute Grenze gibt. Das sahen wir schon: die Gnade muß zum Menschen kommen. Von sich aus kann er bestenfalls bis ans Tor kommen, aber niemals sich den Eintritt erzwingen. Und weiter: sie kann zu ihm kommen, ohne daß er sie sucht, ohne daß er sie will. Die Frage ist, ob sie ihr Werk ohne Mitwirkung seiner Freiheit vollenden kann. Es schien uns, daß die Frage verneint werden muß. Das ist ein schwerwiegendes Wort. Denn offenbar liegt darin, daß Gottes Freiheit, die wir Allmacht nennen, an der menschlichen Freiheit eine Grenze findet.

Die Gnade ist der Geist Gottes, der sich zur Seele des Menschen herabsenkt. Sie kann darin keine Stätte finden, wenn sie nicht frei darin aufgenommen wird. Das ist eine harte Wahrheit. Sie besagt – außer der erwähnten Schranke der göttlichen Allmacht – die prinzipielle Möglichkeit eines Sichausschließens von der Erlösung und dem Reiche der Gnade. Sie besagt nicht eine Grenze der göttlichen Barmherzigkeit. Denn wenn wir uns auch nicht dem Faktum verschließen können, daß für Unzählige der zeitliche Tod kommt, ohne daß sie der Ewigkeit einmal ins Auge gesehen haben und das Heil für sie zum Problem geworden ist; daß weiterhin viele sich zeitlebens um das Heil bemühen, ohne der Gnade teihaftig zu werden – so wissen wir doch nicht, ob nicht für alle diese an einem jenseitigen Ort die entscheidende Stunde kommt, und der Glaube kann uns sagen, daß es so ist.

Die allerbarmende Liebe also kann sich zu jedem herabneigen. Wir glauben, daß sie es tut. Und nun sollte es Seelen geben, die sich ihr dauernd verschließen? Als prinzipielle Möglichkeit ist das nicht abzulehnen. Faktisch kann es unendlich unwahrscheinlich werden. Eben durch das, was die vorbereitende Gnade in der Seele zu wirken vermag. Sie kann nur eben anklopfen, und es gibt Seelen, die sich ihr schon auf diesen leisen Ruf hin öffnen. Andere lassen ihn unbeachtet. Dann kann sie sich in die Seelen einschleichen und sich mehr und mehr darin ausbreiten. Je größer der Raum ist, den sie so illegitimer Weise einnimmt, desto unwahrscheinlicher wird es, daß die Seele sich ihr verschließt. Sie sieht nun die Welt schon in dem Lichte der Gnade. Sie erblickt das Heilige, wo es ihr begegnet und fühlt

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 158. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/158&oldid=- (Version vom 31.7.2018)