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Die ontische Struktur der Person...

ist, darüber ist er allein Richter, nicht der, der es tut. Niemand kann sich also vor Gott auf Verdienste berufen, die er sich erworben hat, weil er niemals wissen kann, ob er welche hat. (Für den Heiligen ist es gerade charakteristisch, daß er seine Verdienste nicht sieht.)

Wenn vorhin davon die Rede war, daß man auf Grund seiner Verdienste die Gnade für einen andern erflehen könnte, so darf das nicht dahin gedeutet werden, als könnte man auf seine Verdienste hinweisen und den Lohn dafür einfordern. Es bedeutet nur, daß die objektiv vorhandenen Verdienste des Heiligen seine Fürbitte besonders wirksam machen. Ein Hinweis auf eigene Verdienste kann immer nur hypothetisch sein. Und alles dies weist uns darauf hin, daß nicht etwa der Heilige allein, der Zeichen und Wunder getan hat, berufen und ermächtigt ist, Stellvertreter vor Gott zu sein. Auch der Ärmste und von der Sündenlast Niedergebeugte kann und darf vor den Herrn hintreten und für einen andern beten. Einmal, weil der Herr nicht nur gerecht, sondern auch barmherzig ist. Und dann, weil es ja kein Gott wohlgefälligeres Werk geben kann als ein gläubiges Gebet.

Eben hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der Möglichkeit einer Stellvertretung in Schuld und Verdienst. Wenn man nur auf die rein rechtlichen Verhältnisse hinsieht, so bleibt man zunächst betroffen vor dem Faktum stehen, daß sie hier ein Anwendungsgebiet haben. Bedenkt man dagegen, daß jeder die Möglichkeit hat, durch sein Gebet dem andern die Gnade zu erwirken, so erscheint er mitverantwortlich für jeden, der noch nicht im Stande der Gnade ist, und mitschuldig an jeder Schuld, die ein anderer auf sich ladet. Indem er sich zum stellvertretenden Leiden anbietet, sucht er nur gutzumachen, was er zuvor durch sein Versäumnis dem andern gegenüber verschuldet hat. Und der Herr erweist ihm eine Gnade, wenn er ihn zum stellvertretenden Leiden zuläßt und ihm damit die Möglichkeit gibt, etwas gutzumachen. So füllen sich die formalen Rechtsverhältnisse mit einem tiefen religiösen Sinn.

Noch eine ganz neue Verantwortlichkeit des Menschen schließt sich uns von hier aus auf. Wir sprachen früher einmal davon, daß nur für ein freies Wesen der Durchbruch aus der Natur zur Gnade möglich sei. Was unfrei geschaffen ist, das vermag nicht von sich aus das Heil zu suchen und an seiner Erlösung mitzuwirken. Daß

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/168&oldid=- (Version vom 31.7.2018)