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Was ist Phänomenologie?

hat er sich erst während der Untersuchung selbst ausgebildet. Dabei machte er die Entdeckung, daß diese Methode nicht nur zur Behandlung logischer, sondern aller philosophischen Fragen überhaupt geeignet sei, und mehr und mehr befestigte sich in ihm die Überzeugung, daß es die Methode sei, die allein zu einer wissenschaftlichen Behandlung der Philosophie führen könne. Dieser Überzeugung hat er zuerst Ausdruck gegeben in dem Logos-Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft (1911). Damit hatte er sich auf die freie Höhe der universellen philosophischen Problematik durchgerungen. Die zusammenhängende ausführliche Darstellung seiner Methode brachten die Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913). Eine Fortführung in wichtigen Punkten bringen die Cartesianischen Meditationen.

Einen wichtigen Punkt zur Charakteristik der Phänomenologie habe ich schon hervorgehoben: sie ist nach Husserls Auffassung nicht unterschieden von Philosophie überhaupt, da sie die Möglichkeit gibt, alle philosophischen Fragen in Angriff zu nehmen, und sie ist im Gebiet streng wissenschaftlicher Forschung, in dem keine subjektive Willkür eine Stelle hat, ein unendliches Forschungsgebiet wie jede Wissenschaft, so daß ein Forscher dem andern, eine Generation der andern die Hand reichen muß, wenn die nötige Arbeit fortschreitend geleistet werden soll. Ihre Aufgabe ist es, alles wissenschaftliche Verfahren, wie es von den positiven Wissenschaften geübt wird, aber auch alle vorwissenschaftliche Erfahrung, auf die das wissenschaftliche Verfahren aufbaut, ja alle Geistestätigkeit überhaupt, die auf Vernunft Anspruch erhebt, auf eine sichere Grundlage zu stellen. Die vorwissenschaftliche Erfahrung aber und die positiven Wissenschaften arbeiten mit gewissen Grundbegriffen und Grundsätzen, die sie ungeprüft setzen. Die Philosophie muß all das, was anderwärts als selbstverständlich vorausgesetzt wird, zum Gegenstand der Untersuchung machen.

Die Logischen Untersuchungen haben diese Arbeit für gewisse logische Grundbegriffe in Angriff genommen. Die I. Untersuchung handelt von Ausdruck und Bedeutung, ein Problem, das für die Logik und Sprachphilosophie, aber auch für manche andern Gebiete von Wichtigkeit ist. In einer für die phänomenologische Methode charakteristischen Weise geht sie aus von dem Sinn der Worte, scheidet sorgfältig die verschiedenen Bedeutungen, die den Worten

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die weltanschauliche Bedeutung der Phänomenologie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/7&oldid=- (Version vom 31.7.2018)