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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Widersprechende Gefühle und Gedanken stürmten auf Ernst Philippi ein. Ein halbes Jahr früher, vor dem kaiserlichen Aprilmanifest 1905, wäre ihm, dem Protestanten, eine Verbindung mit einer Braut griechisch-orthodoxer Konfession eine Unmöglich­keit gewesen, oder er hätte seiner geliebten kurländischen Heimat auf immer Lebewohl sagen müssen. Heute, Gott sei’s gelobt, lagen die Dinge anders. Ihrem Übertritt lag ja nichts mehr im Wege, und formale Schwierigkeiten waren zu überwinden.

„O Claire,“ rief er bewegt, „wir sind einer großen Gefahr entronnen!“

Sie sah ihn staunend an. Dann verstand sie. Ein schönes freies Lächeln beseelte ihr klares Gesicht. „Daran hatte ich nicht gedacht“, sagte sie. „Es ist selbstverständlich, daß ich auch äußerlich die Konfession annehme, mit der ich von Kindheit an verwachsen und vertraut bin, aber,“ fuhr sie nachdenklich fort, „ob ich dadurch eine bessere Christin werde, weiß ich nicht. Ich habe mich auch von den Fesseln der griechisch-orthodoxen Konfession niemals innerlich fesseln lassen. Auch in die sprödeste Form läßt sich ein lebendiger Inhalt gießen.“

„Der Inhalt ist’s aber zumeist, der die Form bildet oder beseelt!“ rief er.

„Von Theologie verstehe ich nichts,“ sagte sie freimütig. „Religion aber scheint mir so weit entfernt von Theologie wie Praxis von Theorie, und Religion ist für mich ein freies Kindesverhältnis zum Schöpfer der Welten.“

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/42&oldid=- (Version vom 1.8.2018)