Seite:George Sand Indiana.djvu/110

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Sie war um Mitternacht gekommen und erwartete ihn seit fünf langen Stunden im ungeheizten Zimmer. Den Kopf in ihre Hand gestützt, saß sie mit jener düsteren Geduld da, welche das Leben ihr gelehrt hatte. Als Raymon eintrat, erhob sie den Kopf; in ihrem bleichen Gesicht war weder ein Ausdruck des Unmutes noch des Vorwurfes zu entdecken.

„Ich erwartete dich,“ redete sie ihn sanft an. „Da du seit drei Tagen nicht zu mir gekommen bist, und in dieser Zwischenzeit Dinge vorgegangen sind, die du unverzüglich wissen mußt, so bin ich um Mitternacht fortgegangen, um dich davon in Kenntnis zu setzen.“

„Das ist eine unverzeihliche Unklugheit,“ erwiderte Raymon, indem er sorgfältig die Tür hinter sich schloß; „und meine Diener wissen, daß du hier bist, sie haben es mir gesagt.“

„Lassen wir das,“ entgegnete sie kalt, „Höre, was ich dir zu sagen habe. Herr Delmare will in drei Tagen nach Bordeaux und von da nach den Kolonien abreisen. Du hast mir versprochen, mich vor Gewalt zu schützen; daß es so weit kommen wird, ist außer Zweifel. Ich habe mich gestern abend erklärt, daraufhin schloß Herr Delmare mich in mein Zimmer ein. Ich bin durch ein Fenster entschlüpft, sieh, meine Hände sind noch blutig. In diesem Augenblick sucht man mich vielleicht; Ralph könnte vermuten, wo ich bin, aber er ist in Bellerive. Ich bin entschlossen, mich zu verbergen, bis Herr Delmare sich darein ergeben hat, ohne mich zu reisen. Hast du daran gedacht, mir einen Zufluchtsort zu sichern? Seit so langer Zeit habe ich dich nicht allein sprechen können, daß ich nicht weiß, wie weit du mit deinen Vorbereitungen bist. Mit Ergebung ertrug ich die Kürze deiner Besuche, den Zwang in unserer Unterhaltung, die Vorsicht, womit du jedes vertraulichere Gespräch mit mir zu vermeiden suchtest. Dennoch hat mein Vertrauen zu dir keinen Augenblick gewankt. Heute will ich mir den Lohn für mein Vertrauen

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George Sand: Indiana. Karl Prochaska, Leipzig [u.a.] [1904], Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:George_Sand_Indiana.djvu/110&oldid=- (Version vom 1.8.2018)