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Zwanzigstes Kapitel.

Frau von Ramière, welche die Gewohnheit hatte, zeitig aufzustehen, war bereits wach. Als sie ihren Sohn bleich und verstört und im Ballanzuge eintreten sah, erriet sie sogleich, daß er sich wieder einmal in einer, der in seinem stürmischen Leben so häufigen Krisen befinde. In solchen Lagen war sie stets seine Zuflucht und seine Rettung gewesen. Alles, was ihrem Sohne das Leben süß und angenehm gemacht hatte, war dem ihrigen zu Kummer und Sorge geworden. Sein Charakter war nur eine Frucht ihrer unerschöpflichen Liebe und ihrer edlen Zärtlichkeit für ihn. Unter der Zucht einer strengen Mutter wäre er besser geworden.

Frau von Ramière erblaßte, richtete sich in ihrem Bette auf und sah ihn angstvoll an. Schon ihr Blick sagte ihm: „Was kann ich für dich tun? Wohin soll ich eilen?“

„Liebe Mutter,“ begann er, indem er ihre magere, fast durchsichtige Hand ergriff, „ich bin entsetzlich unglücklich und bedarf deiner. Ich liebe Frau Delmare. Diese Frau bringt mich zur Verzweiflung, ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.“

„So sprich nur!“ sagte Frau von Ramière mit der Lebhaftigkeit, welche die Kraft ihrer mütterlichen Liebe ihr gab.

„Seit mehreren Monaten suche ich sie zu ihrer Pflicht zurückzuführen, aber alle meine Bemühungen dienen nur dazu, ihre Sucht nach Abenteuern, wie die Frauen ihres Landes sie in ihren romantischen Köpfen nähren, noch mehr zu reizen. In dem Augenblicke, wo ich mit dir spreche, ist sie in meinem Zimmer, wider meinen Willen, und ich weiß nicht, wie ich sie bewegen soll, sich zu entfernen.“

„Die Unglückliche!“ rief Frau von Ramière, während sie sich eilig ankleidete. „Ich will mit ihr sprechen; darum wolltest du mich doch bitten, nicht wahr?“

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George Sand: Indiana. Karl Prochaska, Leipzig [u.a.] [1904], Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:George_Sand_Indiana.djvu/115&oldid=- (Version vom 1.8.2018)