Seite:George Sand Indiana.djvu/83

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völliges selbstloses Aufgehen in ihr fordernd, so wenig Ansprüche machte, mit dem verstohlenen Glücke zufrieden war und ihm blind vertraute. Die Liebe war für ihr Herz eine neue und edle Leidenschaft, tausend zarte und edle Gefühle knüpften sich immer von neuem daran und gaben ihr eine Kraft, welche Raymon nicht fassen konnte.

Er selbst war anfangs von der ewigen Gegenwart ihres Gatten oder ihres Vetters unangenehm berührt. Aber bald zwang ihn Indiana, sich dieser fortdauernden Aufsicht zu fügen. Das Gefühl des Glückes, welches ihr verstohlener Blick ihm bezeugte, die beredte und stumme Sprache ihrer Augen, ihr Lächeln, wenn das Gespräch durch eine plötzliche Anspielung ihre Herzen berührte, – das alles waren bald zarte und köstliche Freuden, welche Raymon dank seinem Zartgefühl und seiner trefflichen Erziehung zu schätzen wußte.

Wenn er sich zufällig mit Indiana allein befand, belebten sich ihre Wangen nicht mit einem höheren Rot, sie wendete ihre Blicke nicht verlegen ab. Nein, ihre klaren, ruhigen Augen betrachteten ihn stets mit unbefangenem Entzücken; das engelgleiche Lächeln ruhte immer auf ihren rosigen Lippen wie bei einem kleinen Mädchen, das noch nichts kennt, als die Küsse seiner Mutter. Wenn Raymon sie so vertrauensvoll, so leidenschaftlich, so rein sah, nur dem keuschen Bedürfnisse des Herzens lebend, wenn er zu ihren Füßen lag, dann wagte Raymon nicht mehr Mensch zu sein, in der Besorgnis, die ideale Vorstellung, welche sie sich von ihm gebildet hatte, zu zerstören. Aus Eigenliebe wurde er tugendhaft wie sie.

Aber einen gab es in diesem Familienkreise, dessen Glück völlig zerstört wurde, und das war Ralph. Für ihn hatte das Leben nie glänzende Aussichten, nie reine, innige Freuden gehabt; für ihn war es ohne Poesie, ohne Interesse, ohne Freundschaft, ohne Liebe. Er hatte Vater und Mutter gehabt, einen Bruder, eine Gattin, einen Sohn, eine Freundin, und doch hatte er von all diesen Familienbanden nichts gewonnen,

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George Sand: Indiana. Karl Prochaska, Leipzig [u.a.] [1904], Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:George_Sand_Indiana.djvu/83&oldid=- (Version vom 1.8.2018)