Seite:Graesse Sagenschatz Sachsens II 084.jpg

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sie eine Locke von ihrem Haupte schnitt und ihm darreichte. –

„In zwei Jahren bin ich wieder bei Dir,“ rief Otto begeistert, „diese Locke soll mich stets im Schwerterklang an Dich mahnen. Lebe wohl!“ –

Glühende Küsse drückte er auf ihren Mund und stieg zu Rosse. Bald waren die letzten Helmbusche hinter den Bergen verschwunden – und Rosamunde war allein. Sie hatte ihnen nachgeblickt, und als sie in der Ferne nichts mehr erkennen konnte, weinte sie in ihrem Zimmer heiße Thränen.

Tapfer kämpfte Otto von Stubenberg im gelobten Lande und einer der Ersten pflanzte er das Panier auf die Mauern Jerusalems, so daß sein trefflicher Herr und Kaiser ihn öffentlich lobte und auszeichnete. Er ward ein Schrecken der Sarazenen und vor seinem Schlachtruf flohen sie erschreckt in’s Weite.

Als nun das Ende der zwei ausbedungenen Jahre heranrückte, saß Rosamunde oft einsam auf dem Thurme und blickte hin nach den Bergen, ob sie das Banner ihres heimkehrenden Geliebten noch nicht entdecke. Aber vergebens sandte sie ihre Blicke in die Ferne. Die zwei Jahre vergingen und Otto kam nicht. Da floßen oft heiße Thränen über ihre blühenden Wangen, denn sie dachte, der Geliebte sei todt oder in Sclaverei. Immer heftiger drangen jetzt auch ihre Eltern in sie, sich zu vermählen, und sie sah sich endlich gezwungen, dem Herrn von Römer ihre Hand zu reichen. Die Vermählung ward mit größtmöglichstem Glanze vollzogen und die Blüthe der heimgekehrten und neuherangewachsenen Ritterschaft aus der ganzen Umgegend stellte sich ein zum Hochzeitmahle. Am Abend ward das Bankett gehalten. Trompeten tönten durch den Saal, die mit goldenen Weinen gefüllten Becher klangen lustig an einander und Alles war voller Freude und Wohlleben. Nur Rosamunde saß bleich und trübsinnig da, denn der Kummer um den Verlorenen nagte an ihrer Seele. Da erschien ein Fremder, ein Pilger. Nun

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Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Band 2. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Graesse_Sagenschatz_Sachsens_II_084.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)