Seite:Graesse Sagenschatz Sachsens II 404.jpg

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derselbe die armen Kleinen, welche er mit sich in den Wald genommen hatte, angeblich um sie spatziren zu führen, ermorden wollte, soll nach den Worten des alten Volksliedes der kleine Graf gefleht haben:

Lieber Haider, laß mich leben,
Ich will Dir Orlamünde geben,
Auch Plassenburg, die neue,
Auf daß es Dich nicht gereue!

und das Töchterlein:

Lieber Haider, laß mich leben,
Ich will Dir alle meine Docken geben!

Aber der Mörder ließ sich nicht erbitten und vollbrachte die Unthat, hat aber nachher auf der Folter bekannt, daß sie ihm schrecklich gereuet habe, wenn er der Bitten der unschuldigen Kinder, insonderheit des kleinen Mägdleins gedacht habe. Inzwischen erreichte die Gräfin durch die Ermordung ihrer Kinder gleichwohl ihren Zweck nicht, denn als der Markgraf die abscheuliche Frevelthat vernommen hatte, erfaßte ihn statt der gehofften Gegenliebe der tiefste Abscheu gegen die grausame, unnatürliche Mutter und er ließ ihr sagen, daß er mit jenen vier Augen nur die ihrigen und seine eigenen gemeint habe, die nicht zusammen passen würden, und wandte sich für immer von der blutbefleckten Mörderin. Agnes aber verfiel von Stund an in trübe, finstere Schwermuth und welkte von Reue verzehrt langsam einem frühen Tode entgegen. Sie übte schwere Buße und rutschte auf ihren Knieen bis zum Kloster Himmelskron, wo sie auch begraben liegt, allein sie fand darum doch keine Ruhe im Grabe, denn nicht blos auf der Plassenburg irrt sie in stiller Nacht umher, sondern auch am Berge zu Orlamünde. Dort wo noch jetzt die alte Kemnate den Wohnsitz der alten Grafen von Orlamünde bezeichnet, sieht man des Nachts eine weiß verhüllte Frauengestalt gespenstisch langsam umherwandeln, das todtbleiche Antlitz voll Schmerz und Kummer und mit ihren Augen um sich blickend, als suche sie etwas, das sie verloren habe und nicht wiederfinden könne.[1]


  1. S. oben Bd. II. Nr. 624 eine ähnliche Geschichte nach Meerane in Sachsen verlegt.
Empfohlene Zitierweise:
Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Band 2. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 404. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Graesse_Sagenschatz_Sachsens_II_404.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)