Seite:Graesse Sagenschatz Sachsens I 355.jpg

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des h. Laurentius, und ihre Herzen flogen voll Andacht im Gebete der schönen Jungfrau auf zum Himmel. Da sie gebetet hatte, erhob sie ihr Antlitz von den Stufen des Altars, wandte sich zu den Aussätzigen und sprach zu ihnen: „im Namen Gottes sage ich Euch, wer heute mir folgt, der wird gesunden.“ Da zog ihr viel Volk nach, Gesunde und Kranke, und sie ging die Straße gen Morgen bis auf die Höhe, von da man die Stadt überschaut, und kniete nieder und betete lange. Und da sie aufstand vom Gebete, siehe da sprudelte ein reiner Quell aus dem Boden, den ihr gebeugtes Knie berührt hatte, und alles Volk erstaunte, denn es war noch nie ein Quell daselbst zu finden gewesen. Und Maria segnete den Quell und sprach: „So lange der Quell hier fleußt, die Gnade sich ergeußt.“ Und alles Volk fiel nieder und betete.

Da zog Maria aus ihrem Pilgerkleide einen Kelch, den ihr ein sächsischer Priester in der Kapelle des h. Johannes zu Jerusalem gegeben hatte, um ihn dem Leprosenhause seiner Vaterstadt Leipzig zu übergeben. Und sie füllte den Kelch mit dem Wasser des Quells, hob ihre Hand zum Himmel und sprach: „Im Namen Gottes mag gesunden, wer heute den Weg hierher gefunden.“ Damit reichte sie den Kelch denen, die von einer Krankheit überwältigt waren. Und alles Volk trank daraus und fühlte der Gesundheit neue Lebenskraft mächtig durch die Adern rinnen. Und da Alle getrunken hatten, nahm Maria den Kelch und gab ihn den Aussätzigen von St. Johannes, auf daß sie ihn bewahren möchten für ewige Zeiten nach dem Willen des Gebers. Maria aber kehrte nicht zurück nach der Stadt. Im Garten des Probstes zu St. Thomas war aber ein weißes Reh, das war zahm wie ein Lamm, lief oft ungestört durch die Straßen der Stadt und alle Leute hatten das zarte Thierlein lieb. Da Maria jetzt geendet hatte, drängte sich das Reh von St. Thomas durch die Menge hindurch, stellte sich vor ihr hin und fiel nieder auf seine Kniee. Und die Jungfrau schwang sich wie ein verklärter Engel auf des Thierleins Rücken und lustig sprang dasselbe nach dem Walde gen Connewitz. Die

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Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Band 1. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 355. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Graesse_Sagenschatz_Sachsens_I_355.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)