Seite:Graesse Sagenschatz Sachsens I 451.jpg

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erzählt sich über den Untergang desselben eine schauerliche Geschichte, die also lautet. Im 11. Jahrhundert soll ein Ritter, Odo von Greifen, an dem Hofe des Herzogs Wratislaw von Böhmen gelebt haben und nachdem er sich von hier ein Fräulein entführt, mit dieser in den damals fast nur von wilden Thieren bewohnten Freiwald bei Thum gezogen sein und sich hier ein Schloß, die Greifenburg, erbaut haben. Hier lebten Beide nur der Erziehung ihres einzigen Sohnes, eines Tages aber brachte der Ritter von einem seiner Jagdzüge ein kleines Mädchen von ohngefähr 2 Jahren mit nach Hause, die er im Dickicht schlafend gefunden hatte. Diese ward nun mit dem jungen Ritterssohne zusammen erzogen, beide liebten sich wie Geschwister, als sie aber in das mannbare Alter getreten waren, versäumten ihre Eltern sie gehörig zu überwachen und ihrem beständigen Zusammensein Hindernisse in den Weg zu legen. So kam es, daß aus der geschwisterlichen Zuneigung ein weniger unschuldiges Verhältniß entstand, in einer unbewachten Stunde vergaßen sich die Liebenden und nach Verlauf einiger Monate fühlte sich das unglückliche Mädchen Mutter. Zwar hoffte sie, es werde ihrem Geliebten gelingen, seine Eltern dahin zu stimmen, daß sie ihre Einwilligung zu seiner Verheirathung mit seiner Pflegeschwester gewährten, leider fand sich aber keine passende Gelegenheit, und als eines Tags der Junker ausgezogen war, um einem Waffenbruder seines Vaters, Bruno von Scharfenstein, gegen einen Raubritter, Namens Rekko von Rauenstein, der schon vor 18 Jahren die schwangere Gemahlin des erstern geraubt hatte und jetzt abermals dessen Schloß belagerte, beizustehen, entdeckte seine Mutter die Schwangerschaft ihrer Pflegetochter. Natürlich konnte sie nicht im Zweifel sein, wer der Urheber derselben war, sie entdeckte also ihrem Gemahl Alles, allein da Beide sehr adelstolz waren, so fiel es ihnen gar nicht ein, den einmal geschehenen Fehltritt der beiden jungen Leute zuzudecken. Im Gegentheil, sie behandelten das unglückliche Mädchen ganz als sei sie eine freche Buhldirne und habe den Junker verführt,

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Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Band 1. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 451. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Graesse_Sagenschatz_Sachsens_I_451.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)