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Hand gestützt, und die Augen geheftet auf einen Runenstab, der, mit krausen Zeichen bedeckt, über ihren Knien lag.

Zu ihren Füßen kauerte ein großer, zottiger, gelber Wolf, dem als Halsband eine Natter diente. Zu Zeiten ringelte die Reifriesin die Natter ab, legte sie dem Wolf als Zaum in das Maul, und schwang sich auf des Tieres Rücken zum Ritt über die weiten Berge.

Beim Eintritt der Männer stand die Jungfrau von ihrem Sitze auf. Sie war groß und knochig gebaut. Aber ihr Gesicht war jugendfrisch, und ihr dunkles Haar in einen Knoten geschlungen.

„Du bist es Vater?“ sagte sie mit einem fast männlichem Klang in der Stimme. „Du kommst spät zurück, und nicht allein!“

„Es ist Gretter, der Starke, den ich dir bringe!“ –

„Gretter sei willkommen in unserm Reich,“ sagte die Reifriesin. „Mein Auge sieht dich heut zum ersten Mal, aber mein Ohr hat schon von dir vernommen! Denn der Ruf deiner Thaten, die dich uns, den Riesen, ebenbürtig machen, drang zu unsern Bergen herauf! – Hier, nimm den Willkommengruß!“ – Sie füllte das schwere silberbeschlagene Trinkhorn mit Met, führte es selbst an die Lippen und reichte es dann dem Gaste dar.

Gretter nahm das gefüllte Horn, und sprach: „Friede sei mit deinem Reich und mit deinem Hause!“ Dann trank er es auf einen Zug leer.

„Ihr seid beide wund,“ sagte die Jungfrau, die Blutspuren auf den zerfetzten Kleidern musternd.

„Wir kommen aus der Schlacht,“ sagte Hallmund. „Ich stand dem Gretter bei gegen Thorers Mannen auf der Arnarvatnsheide. Mein Schwert fraß zwölf, das seine sechs der feindlichen Männer, die alle das Aufstehen von der Heide nun vergaßen!“

„Ja, Jungfrau,“ sagte Gretter, „deinem Vater dank ich’s, daß ich lebend vor dir stehe!“ –

„Ich will euch beide heilen,“ sagte die Reifriesin. „Auf diesem Runenstabe stehen eingegraben die Namen heilkräftiger Kräuter. Ich werde sie mischen. Ihre Kraft hat mir noch nie versagt!“ –

„Legt ab Schwert und Gewand und sucht das Lager!“ –

Über weiches Moos breitete sie mit geübter Hand das dicke Fell des dunklen, nordischen Bären, rückte Kissen zurecht, und legte dazu die warme Decke von Williram.

Empfohlene Zitierweise:
Emil Dagobert Schoenfeld: Gretter der Starke. Schuster & Loeffler, Berlin 1896, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gretter_der_Starke.pdf/171&oldid=- (Version vom 1.8.2018)