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3. Proudhon, Bakunin, Kropotkin.

Auf eine höhere Stufe ist der Anarchismus erst durch den französischen Buchdrucker und Schriftsteller Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865) gehoben worden. Gleichzeitig mit Stirner, aber völlig unabhängig von ihm hat er eine anarchistische Lehre geschaffen, die alle bisherigen weit hinter sich lässt. Unter den zahlreichen Schriften, in denen er sie entwickelt hat, ragen besonders hervor die Bücher Qu’est ce que la propriété? (1840), Système des contradictions économiques (1846), Confessions d’un révolutionaire (1849), Idée générale de la revolution au XIX. siècle (1851), De la justice dans la révolution et dans l’Eglise (1858) und Du principe fédératif (1863). Proudhon hat die Lehre, dass der Staat keine Daseinsberechtigung habe, zum ersten Mal wirklich durchdacht. Er hat nicht nur gegen den Staat deklamiert, sondern auch versucht, sich ein genaueres Bild von dem zu machen, was an seine Stelle gesetzt werden könne. Man kann ihn den ersten wissenschaftlichen Anarchisten nennen. Von ihm rührt auch die Bezeichnung Anarchismus her, die seitdem für die Lehre üblich geworden ist, die dem Staate die Daseinsberechtigung versagt.

Proudhon geht aus von der Idee der Gerechtigkeit, die der Massstab aller menschlichen Verhältnisse sein müsse. Von diesem Standpunkte aus verwirft er den Staat. Jede Herrschaft von Menschen über Menschen, möge sie nun in monarchischer, oligarchischer oder demokratischer Gestalt auftreten, ist nach ihm gleich ungerecht. Statt des Staates fordert er ein geselliges Zusammenleben, das nicht durch eine höchste Gewalt, sondern nur durch die bindende Kraft des Vertrages zusammengehalten wird. Freie Vereinigungen, „Föderationen“, sollen die gegenwärtigen Aufgaben des Staates übernehmen. Wie unsere kirchlichen Bedürfnisse sich unabhängig vom Staate durch freiwilligen Zusammenschluss befriedigen lassen, indem die Anhänger eines Glaubensbekenntnisses in Beziehung mit einander treten, Gelder zusammenschiessen, Geistliche anstellen und Kirchen unterhalten, ebenso muss dies auch mit allen unseren anderen Bedürfnissen möglich sein, etwa mit dem Bedürfnis nach gerichtlichem und polizeilichem Schutz, nach Verkehrswegen, nach Einrichtungen zum Besten der Landwirtschaft und der Industrie. Die dem gleichen Zweck dienenden Föderationen können sich dann wieder zu grossen einheitlichen Verbänden zusammenschliessen, so dass Kultusverwaltung, Ackerbau-, Industrie- und Handelsverwaltung, Verkehrs-, Justiz-, Heeres- und Finanzverwaltung vollkommen zentralisiert sind, und die Spitzen aller dieser Verwaltungen können sich endlich etwa in einem Ministerrat vereinigen, der über alle Angelegenheiten beschliesst, die den verschiedenen Verwaltungen gemeinsam sind. Damit ein Volk seine Kräfte voll ausnützen kann, muss es zentralisiert sein, aber diese Zentralisation braucht nicht die staatliche zu sein. Sie findet weit besser von unten nach oben, von der Peripherie nach dem Zentrum im Wege des freien Zusammenschlusses statt.

Anders als der Staat ist nach Proudhon das Eigentum mit der Idee der Gerechtigkeit durchaus vereinbar. In seinen freien Vereinigungen soll dem Einzelnen über die Güter, die er erzeugt oder durch Vertrag erworben hat, eine Herrschaft gewährleistet sein, die fast vollkommen dem entspricht, was wir Eigentum nennen. Proudhons bekanntes Wort „das Eigentum ist Diebstahl“ ist nichts als eine scharfe Kritik der gegenwärtigen, seiner Meinung nach ungerechten Verteilung des Eigentums.

Die Beseitigung des Staats soll nach Proudhon auf gesetzmässigem Wege erfolgen. Man braucht nur die Menschen von der Idee der Föderation zu überzeugen, so wird der Staat ganz von selbst zusammenbrechen. Das geeignetste Mittel aber zur Propaganda für die Föderation ist die Föderation selbst. Wenn die Menschen sich zu den verschiedensten Zwecken zusammenschliessen und wenn ihre Vereinigungen das, was jetzt der Staat tut, ungleich besser vollbringen, so wird bald jedermann die Wertlosigkeit des Staates erkennen, und dieser wird sich ohne jede Anwendung von Gewalt auf gesetzliche Weise auflösen. Durch die Gründung seiner bekannten „Volksbank“ hat Proudhon selbst ein Beispiel freiwilligen Zusammenschlusses zu schaffen gesucht.

Proudhon hat eine grosse Zahl von Anhängern gefunden und auch auf die meisten spätern Vertreter des Anarchismus starken Einfluss geübt. Erst von ihm an gibt es eine zusammenhängende Geschichte des Anarchismus. Das nächste Glied der Entwicklungskette bildet der russische Berufsrevolutionär

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/193&oldid=- (Version vom 25.7.2021)