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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

den allgemeinen Grundsätzen des Strafgesetzbuches und den Sonderbestimmungen der strafrechtlichen Nebengesetze fehle, überall werde das Gleichmass der Strafdrohung verletzt; ratlos stünde dem Wissenschaft und Rechtsprechung gegenüber (Systematische Rechtswissenschaft in Hinneberg „Kultur der Gegenwart“ 1906 S. 211). Das gibt zu denken, mag es auch also bedenklich nicht (mehr) sein.

Für die Formulierung des Gesetzes[1] ist oberste Anforderung: Das Gesetz muss aus sich heraus verständlich sein für denjenigen, an den es sich wendet; es muss den gesetzgeberischen Willen zu verständlichem Ausdrucke bringen. Hier zeigt sich das künstlerische Moment. Keineswegs bloss in der Sprache, sondern schon in der Zuteilung einer Materie in dieses oder jenes Gesetz (formelles Recht, materielles Recht) und im Aufbau innerhalb des Gesetzes (allgemeiner Teil – besonderer Teil). Die Gegenwart ist durch die Vorarbeit der Wissenschaft an ein hohes Mass durchdachter Systematik gewöhnt, die den Rechtsgedanken schärfer abgrenzt, und sie ist nicht geneigt, die Ansprüche gegenüber dem Gesetze herabzusetzen. Sie verlangt nicht minder eine technisch klare Anreihung; eine Novellengesetzgebung, wie sie z. B. die Gewerbeordnung verunstaltet, wird als grober gesetzestechnischer Mangel empfunden. Freilich ist ein Gesetzbuch kein Lehrbuch. Es darf sich nicht mit unverbindlichem Inhalte belasten. Keine Kunst lehrt – sie gestaltet: So ist es auch nicht Sache des Gesetzes, dogmatisch zu definieren, es hat zu dekretieren.

Gesetze sollen eine gemessene Sprache reden, kurz und bündig.[2] Frühere Zeit beliebte die imperative Form; sie ist durch eine apodiktische (Präsens) oder hypothetische Formulierung abgelöst. Gesetze sollen alles, was sie zu sagen haben, auch selbst sagen. Verweisungen auf andere Gesetzesstellen sind mit Vorsicht anzuwenden: Verweisungen innerhalb desselben Gesetzes schon aus ästhetischen Gründen; Verweisungen auf ein bestimmtes anderes Gesetz, da es im neuen Gefüge neuen, ungeahnten Sinn entwickeln, aber auch zu einem Sonderleben erstarren kann, während es draussen sich wandelt; Verweisungen auf einen ganzen Komplex von Sätzen in ihrem jeweiligen Bestande, da solche automatische Ergänzung in der Tragweite kaum übersehen werden kann. Manche Kürze ist dadurch herbeigeführt worden auf Kosten des klaren gesetzgeberischen Gedankens (z. B. beim Schutzgebietsgesetz). Gesetze sollen keine Lücken lassen; zuweilen ist es ein Armutszeugnis für den Gesetzgeber und die Schärfe seines Denkens, wenn er gewisse Fragen der Wissenschaft und der Praxis zur Lösung zuweist. Nur ein Ausweichen ist oft – und dann abzulehnen – die Weitmaschigkeit, sog. Kautschukparagraphen, oder die Verwendung sog. Ventilbegriffe.[3] Aber kein Wort auch zu viel! Die Auslegung heftet sich daran; ein Wort, eine Gefahr. Durchdachte Regelung wird zu abstrakter Formulierung führen. Abstrakte Form ist die höhere Stufe gegenüber einer bequemen Kasuistik, die nur die Hauptfälle erfasst, die dem Gesetzgeber gerade liegen, die


  1. Montesquieu, Esprit des lois, Buch 29 (besonderes Kap. 16); Courtenay Ilbert, Legislative methods and forms, 1901. Ein Runderlass des Reichskolonialamts vom 4. Mai 1908 (Kolonialgesetzgebung XII 168) sucht allgemeine Grundsätze für die Abfassung von Verordnungen aufzustellen; das verdient Beachtung.
  2. Legem brevem esse oportet – ist zum Sprichwort geworden, von dem der Ursprung sich in der Zeit verlor! Svaroz, Inwiefern müssen Gesetze kurz sein ? (Vgl. Stölzel S. 183, 225). Über „Simplizität“ der Gesetze äussert sich z. B. Eberh. v. Rochow, der Vater des preussischen Volksschulwesens, in der Deutschen Monatsschrift 1790 (Abdruck in seinen pädagogischen Schriften, herausgegeben von Jonas u. Wienecke II 1908 S. 112 f.) überhaupt werden solche Anforderungen im Rahmen der Bestrebungen der Aufklärungszeit nach Unterricht in der Rechtskunde wiederholt gestellt (vgl. Fleischmann, Frühzeit der Bürgerkunde, 1913).
  3. Die „analytische Vereinfachung des Tatbestandes“ (Ihering, Geist des römischen Rechts 3, 13 § 55), die im BGB. auf eine Verteilung oder Andeutung, auch Verschiebung der Beweislast hinausläuft, braucht nicht als der Höhepunkt gesetzgeberischer Kunst angesehen zu werden. Allgemein über die technische Behandlung des Stoffs Knoke in Plancks Kommentar zum Bürgerl. Gesetzbuch4 I. 1913 S. XLVI. fg.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/310&oldid=- (Version vom 1.8.2018)