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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

a) Vertrag ist Rechtsgrund eines Staates nicht nur in den historisch höchstens vereinzelt nachweisbaren Fällen der Staatsgründung durch freiwillige Übereinkunft von Individuen (oben II 3 a), sondern namentlich auch in den Fällen der Schaffung eines Bundesstaates bezw. eines einfachen Staates durch Konföderation oder Union mehrerer Staaten (oben II 4 f und g). Hinzukommen muss aber in den letzterwähnten Fällen ein Gesetz jedes einzelnen beteiligten Staates, durch welches er seine Angehörigen zum Gehorsam gegenüber dem neuen Staatswesen verpflichtet und überhaupt der Rechtsordnung des letzteren für sie verbindliche Kraft erteilt.

b) Auf Gesetz wird insbesondere dann die rechtliche Existenz eines neuen Staates beruhen, wenn die Schaffung desselben durch den Willen eines bestehenden Staates auf dem Wege der Gliederung oder der Kolonisation oder der Teilung (vgl. oben II 4 a, b und c) erfolgt. Dagegen kann kein Staat sich selbst durch Gesetz die ihm sonst mangelnde rechtliche Existenz geben. Freilich wird nicht selten ein neu sich bildender Staat die Gesetzesform für seine Konstituierung – die Erklärung seines rechtlichen Daseins und die grundlegenden Bestimmungen seiner rechtlichen Ordnung – anwenden, aber dadurch kann eine rechtliche Verpflichtung der ihm bisher nur tatsächlich unterworfenen Menschen nicht entstehen, sondern der ihm und folglich seinen Vorschriften anhaftende Mangel wird regelmässig erst im Laufe der Zeit durch Einwirkung des Gewohnheitsrechts geheilt werden.

c) Auf dem Wege des Gewohnheitsrechts wird insbesondere die rechtliche Bildung eines Staates aus einem engern genossenschaftlichen oder herrschaftlichen Verbande in innigem Zusammenhange mit einer derartigen tatsächlichen Entwicklung (oben II 3b) erfolgen. Aber auch in den zahlreichen Fällen, wo ein Staat zunächst rein tatsächlich und insbesondere im Widerspruch mit dem bisherigen Recht durch eine Lossagung oder Eroberung (oben II 4 d und e) entstanden ist, wird, soweit nicht etwa ein Friedensvertrag oder ein sonstiger nachträglicher Akt des verletzten Staates als rechtliche Grundlage des neuen Staats anzusehen ist, durch die Kraft des Gewohnheitsrechts der neue Zustand zu einem rechtlichen werden, indem die rechtliche Überzeugung und Übung des Volks sich dem tatsächlichen Zustande, falls dieser fortdauert und sich befestigt, allmählich anpasst.

V. Rechtlicher Untergang von Staaten.

1. Wie die rechtliche Existenz eines Staats immer auf einem Rechtssatz beruht, so wird auch der Untergang eines Staats rechtlich im allgemeinen nur durch einen Rechtssatz erfolgen können. Dem staatsvernichtenden Rechtssatz steht aber gleich die dauernde faktische Unmöglichkeit der Wiederherstellung eines tatsächlich untergegangenen Staates. Wenn ein Staat tatsächlich aufgehört hat zu bestehen und es, etwa infolge der Vernichtung des Volkes oder der Verschmelzung desselben mit einem andern Volke, sicher ist, dass er in der bisherigen Zusammensetzung oder mindestens einer wesentlich gleichen nicht wieder wird bestehen können, so ist auch rechtlich sein Dasein erloschen. Eine nur vorübergehende Unmöglichkeit der faktischen Wiederherstellung eines Staates, wie sie z. B. durch Übermacht eines fremden Volkes bewirkt wird, hebt dagegen sein rechtliches Dasein nicht auf.

2. Ein Rechtssatz, wodurch das Aufhören eines konkreten Staates bestimmt wird, kann sich, ebenso wie ein staatsschaffender Rechtssatz, gründen auf Vertrag, Gesetz oder Gewohnheitsrecht. Jedoch wird durch Vertrag auch aller einzelnen Staatsangehörigen die über ihnen stehende Gesamtpersönlichkeit des Staates nicht aufgehoben werden können, und auch ein Staatsvertrag resp. Staatsgesetz, durch den der betreffende Staat selbst sein Sonderdasein aufgibt, wird infolge der Gewöhnung des Volks und vermöge des Selbsterhaltungstriebs der staatlichen Organe nur selten, insbesondere im Fall einer freiwilligen Einverleibung in einen grösseren Staat oder einer freiwilligen Vereinigung mehrerer Staaten zu einem neuen umfassenderen Staatswesen (vgl. oben II 4 g und III 2 d), zustande kommen; ein den Staat aufhebendes Gewohnheitsrecht aber kann sich während seines tatsächlichen Bestehens nicht bilden. So wird noch häufiger als die Entstehung der Untergang eines Staates zunächst rein tatsächlicher Natur sein und erst nachträglich auf dem Wege des Gewohnheitsrechts rechtliche Geltung erlangen.



Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/93&oldid=- (Version vom 10.7.2021)