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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

zählte, sank 1831 auf 47 Mandate und die Zahl der nationalliberalen Wählerstimmen ging von 1878 auf 1881 auf die Hälfte zurück. In dieser Not der Partei, die noch vergrössert wurde, als sich 1883 Bennigsen aus dem politischen Leben zurückzog, erwachte der feste Wille, dem Hader in den eignen Reihen ein Ende zu bereiten. Es entstand die Heidelberger Erklärung als ein Bekenntnis zur Bismarck’schen Sozialreform, die damals nicht vom Flecke rücken wollte, als ein Appell, die Zollfrage als zunächst erledigt von der Tagesordnung der nächsten Jahre abzusetzen. Auf dem Parteitag des Jahres 1884 erschien Bennigsen. Der Berliner Parteitag stimmte der Heidelberger Erklärung zu und betonte die Selbständigkeit der Partei. Diese Entwickelung des Jahres 1884 war eine Notwendigkeit, wenn die Partei nicht der Auflösung verfallen sollte. Angesichts der Bedeutung, die heute mehr wie zuvor dem Heidelberger Programm beigelegt wird, seien einige weitere Ausführungen gestattet. Miquel war der Vater der Heidelberger Bewegung, er war auch ihr berufener Interpret. Auf dem Neustädter Parteitag am 14. April 1881 führt er aus: Die Heidelberger Erklärung ist kein Zukunftsprogramm. Sie beschränkt sich verständigerweise – und das sollten alle politischen Programme tun – auf eine bestimmte Stellungnahme zu den brennenden politischen und sozialen Tagesfragen von heute. Die Heidelberger Erklärung ist keine süddeutsche separatistische Parteiauffassung, sie stellt voll und ganz auf dem Boden des Programms der nationalliberalen Partei des Jahres 1881 und schliesst sich in allen Punkten an dasselbe an. Aber sie nimmt zu den in der Zwischenzeit schärfer und bestimmter hervorgetretenen Fragen naturgemäss auch bestimmtere und deutlichere Stellung.

Miquel sprach sich in derselben Rede über Parlament und Stimmrecht aus; er sagt:

„Unter allen Umständen halten wir eine kräftige Mitwirkung des deutschen Volks und eine unangefochtene Stellung des deutschen Parlamentes nicht bloss zur Sicherung der Freiheit sondern vor allem der Einheit für unerlässlich. Ein unabhängiges Parlament, ein würdevolles Parlament haben Sie dekretiert durch das allgemeine Stimmrecht. In unsern heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen bei der Abhängigkeit so vieler von anderen ist es eine Fälschung des Wahlrechts, das geheime Stimmrecht anzugreifen. Wir wollen dasselbe verteidigen wie alle übrigen Rechte und Privilegien des deutschen Parlaments.“

Er verwies auf die schwieriger gewordene Lage der deutschen Landwirtschaft, aus der sich die Berechtigung der Agrarzölle ergebe und präzisierte den Inhalt des Heidelberger Programms in einem Brief an Bennigsen vom 5. Mai 1884, in welchem er schreibt, dass die nationalliberale Partei nach wie vor liberale Gesetzgebung und Entwicklung verlange, dass dieselbe aber die Sozialpolitik des Fürsten Bismarck unterstützen wolle. Dieser Punkt sei das Entscheidende, auf ihn lege man in Süddeutschland das grösste Gewicht, daran hefte sich die zukünftige Politik vorzugsweise.

Die Tatsache, dass die beiden führenden Geister Bennigsen und Miquel sich wiederum an die Spitze einer aktiven Politik der Partei gestellt hatten, gab den Parteigenossen im Lande neuen Mut und so ging man mit Zuversicht in die Wahl des Jahres 1884, die freilich die alte Wählerzahl des Jahres 1878 nicht zurückbrachte, sondern um 300 000 Stimmen hinter derselben zurückblieb, die auch die Zahl der Mandate nur um 6 – von 45 auf 51 – erhöhte, die aber immerhin erwies, dass einem weiteren Rückgang der Partei Einhalt geboten war. Das Jahr 1887 brachte die grosse Frage der Heeresverstärkung, damit die Belebung des nationalen Gedankens im Volke, den Abschluss des Kartells zwischen Nationalliberalen und Konservativen und als Erfolg der zugkräftigen Parole für die Nationalliberalen ein Anwachsen ihrer Stimmen auf 1 700 000 mit 99 Mandaten. Es waren hochgemute Zeiten, die leider nicht lange anhielten. Die bewilligten neuen Steuern, die Verlängerung der Legislaturperiode von 3 auf 5 Jahre brachten der Partei manche ungerechtfertigte Kritik ein und die Erneuerung des Kartells im Jahre 1890 war, da nationale Fragen nicht zur Diskussion standen, eine verkehrte Massnahme und wurde durch die Wahlen als ein Fehler erwiesen, indem die Stimmenzahl um 600 000 zurückging und die Mandate sich von 99 auf 42 verminderten. Man befürchtete in manchen Wählerkreisen eine Gefährdung von Volksrechten durch diese erneute Verbindung mit den Konservativen und wandte sich so von den Nationalliberalen ab, obwohl diese nicht willens waren, eine rückschrittliche Politik zu treiben.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/42&oldid=- (Version vom 1.9.2021)