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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

kommen noch ca. 1400 Schauspieler, die an grossen Provinztheatern für 8 Monate im Jahre mit Gagen von 3000 Mark und mehr engagiert sind. Also nur höchstens 25% oder ¼ aller deutschen Schauspieler hat eine gesicherte auskömmliche Stellung, d. h. ein Einkommen über 3000 Mark. Wieder ¼, also wieder 25% beziehen ein Einkommen von 1000 bis 3000 Mark, 50%, also die Hälfte aller deutschen Schauspieler, die nur 6 Monate oder noch geringere Zeiträume Engagements finden, haben ein Einkommen unter 1000 Mark. Hierzu kommt noch die betrübende Tatsache, dass in jeder Spielzeit ungefähr 1500 Schauspieler ohne Engagement, also fast der zehnte Teil aller Schauspieler ständig brot- und erwerbslos ist. Dieses wirtschaftliche Elend der Mehrzahl der deutschen Schauspieler wird noch durch Verträge gesteigert, die mit unserem modernen sozialen Empfinden und Rechtsbewusstsein schwer in Einklang zu bringen sind. Durch die vielfach übliche Bestimmung in den Verträgen, dass die männlichen Mitglieder neben Perücken, Schminke und allen Toilettenartikeln die gesamte moderne Tracht, die weiblichen Mitglieder obendrein noch alle erforderlichen historischen Kostüme auf eigene Kosten zu stellen haben, erwachsen den Künstlern Unkosten, die häufig in einem schreienden Missverhältnis zu ihrer Gage stehen, ja bei Schauspielerinnen nicht selten die ganze Gage aufzehren. Weitere Missstände in den Verträgen beziehen sich auf unentgeltliche Vorproben, Gagenausfälle in der Charwoche etc., Kürzung der Gagen und Kündigungsrecht in Erkrankungsfällen, auf das Strafsystem, die Disziplinar- und Hausordnung etc. Rigorose Bestimmungen über den Probemonat, die Volontärzeit, die Möglichkeit einseitiger Kontraktlösung durch den Bühnenleiter finden sich gleichfalls eben so häufig, wie weit über das Mass des Berechtigten und Billigen hinausgehende Konkurrenzklauseln. Endlich wird auch über die moralischen Gefahren, welchen die Schauspielerinnen durch ihre prekäre finanzielle Lage ausgesetzt sind, sowie über die Hygiene im Theaterbetriebe ein wenig erfreuliches Bild entworfen. Um die Bekämpfung der geschilderten Missstände, insbesondere um die Schaffung eines einheitlichen Theaterrechts, die Regelung des Konzessionswesens, die Aufstellung allgemeiner Grundsätze für einheitliche Anstellungsverträge etc. hat sich die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger teilweise mit Erfolg bemüht. Die Genossenschaft, welche im Jahre 1913 300 Ortsverbände mit ca. 12 500 Mitgliedern umfasst, ist ferner bestrebt gewesen, die Beziehungen zu den Theateragenturen und die von ihnen erhobenen Gebühren zu regeln, durch Aufklärung hat sie den bisherigen ungesunden Zudrang zu den Theaterlaufbahnen einzuschränken gesucht und hat endlich eine Sterbekasse, eine Witwen- und Waisenpensionsanstalt ins Leben gerufen.

Die wirtschaftliche und soziale Lage der Kunstmaler und Bildhauer, soweit sie als freischaffende Künstler zu den freien Berufen zu zählen sind, ist eine ausserordentlich verschiedene. Die grosse Mehrzahl rekrutiert sich aus schwer um ihre Existenz ringenden Talenten aller Altersstufen, die im Vertrauen auf ihr Können und auf bessere Zeiten vielfach mit einem geringeren Jahreseinkommen als ein gelernter Arbeiter, durch gelegentlichen Verkauf ihrer Kunstwerke oder durch künstlerischen Unterricht gewissermassen von der Hand in den Mund leben. Daneben findet sich eine im Vergleich hierzu immerhin geringe Anzahl von Künstlern, welche sich durch Glück im Verein mit hervorragendem Können einen Namen gemacht haben und dank ihrer Beliebtheit durch lohnende Aufträge und guten Absatz ihrer Kunstwerke vielfach ein glänzendes Einkommen beziehen. Der Versuch einer zahlenmässigen Erfassung der wirtschaftlichen Lage dieser Klasse ist bisher nicht gemacht worden und wird sich wohl auch schwerlich mit Erfolg durchführen lassen. Ein nicht unerheblicher Teil von bildenden Künstlern stellt seine Kunstfertigkeit und künstlerische Begabung in den Dienst des Kunstgewerbes oder der Industrie, insbesondere der Möbel- und Metallindustrie sowie der keramischen und graphischen Gewerbe. Diese Künstler pflegen zu einem oder mehreren Industriellen in festen geschäftlichen Beziehungen zu stehen, von ihnen abhängig zu sein und deshalb nicht für den freien Markt zu arbeiten; ihr Einkommen ist meist ein regelmässiges und kommt vielfach dem der höher bezahlten Handlungsgehilfen und Privatbeamten (Techniker und Ingenieure) gleich, wie überhaupt ihre wirtschaftliche Lage in vielen Beziehungen mit derjenigen der grossen Privatbeamtenklasse übereinstimmt. In Hinblick hierauf erstreben auch ihre Organisationen eine rechtliche Gleichstellung mit den kaufmännischen Angestellten, stellen die nämlichen sozialpolitischen Forderungen an die Gesetzgebung und treten für eine Reform des kunstgewerblichen Schulwesens unter Mitwirkung der Vertreter der Berufsorganisationen nach dem

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/102&oldid=- (Version vom 14.11.2021)