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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Grund und trotz amtlicher Aufforderung der Impfung oder der ihr folgenden Vorstellung entzogen geblieben sind; mit Geldstrafe bis zu fünfzig Mark oder mit Haft bis zu drei Tagen. Ärzte und Schulvorsteher werden bestraft, wenn sie den ihnen auferlegten Verpflichtungen nicht nachkommen. Die Impfung darf nur durch Ärzte vorgenommen werden.

Dies sind die wesentlichen Bestimmungen des im ganzen Reichsgebiet geltenden Impfgesetzes. Die Friedenssanitätsordnung vom 16. Mai 1891 bestimmt noch, dass alle militärpflichtigen Personen nach ihrer Einstellung in das Heer oder die Marine geimpft werden. Die Impfung ausländischer Arbeiter kann auch verlangt werden.

2. Rechtsentwicklung. Eingeführt in England durch Jenner im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts verbreitete sich die Schutzpockenimpfung auch nach Deutschland. Der Impfzwang wurde zunächst in Süddeutschland eingeführt (Bayern 1807, Baden 1815, Württemberg 1818) Das preussische Regulativ vom 18. August 1835 empfahl dringend die Impfung der Kinder und ordnete die Zwangsimpfung beim Ausbruch der Pocken an.

Das Reichsgesetz sollte ursprünglich den Titel „Gesetz über den Impfzwang“ führen. Der Abg. Löwe bemerkte dazu aber in der Reichstagssitzung vom 9. März 1874: Der Impfzwang war nur ein Teil desjenigen, was das Gesetz regeln wollte. Das Gesetz ordnet in der Tat das ganze Impfwesen in der Bevölkerung, und indem es das tut, glaubten wir, der zweckmässigste und kürzeste Ausdruck würde sein „Impfgesetz“.

Wenn nun auch das Impfgesetz nicht ausdrücklich als Impfzwangsgesetz bezeichnet wurde, so nimmt es doch nicht die Möglichkeit, zwangsweise Impfungen vorzunehmen, denn bei fortgesetztem Ungehorsam kann fortgesetzte Bestrafung[1] und schliesslich, wo es die landesgesetzlichen Bestimmungen, die durch das Reichsgesetz nicht aufgehoben sind, zulassen, zwangsweise Vorführung des Impflings erfolgen.[2]

Die Anhänger der Schutzpockenimpfung sind mit dem Gesetz zufrieden, der Abg. Mugdan erklärte sogar in der Sitzung des Reichstags vom 3. Dez. 1911, das Impfgesetz sei eines der besten Gesetze, die überhaupt im Reichstag gemacht worden sind. Die Impfgegner verlangen die Beseitigung des Gesetzes oder wenigstens die Einführung der sog. Gewissensklausel nach englischem Muster. In England kann seit dem Jahre 1898 die Impfung unterbleiben, wenn der gesetzliche Vertreter des Impflings erklärt, er glaube, dass die Impfung „prejudicial to the health of the child sei“.[3] Die Impfgegner behaupten, dass die Impfung nicht vor den Pocken schütze, dass sie schwere Nachteile für die Gesundheit mit sich bringe, und dass man sich auf andere Weise gegen die Pocken schützen und sie auch ausheilen könne. Die Gesundheitspolizei hat sich an das Gesetz zu halten, wobei es sich von selbst versteht, dass unnötige Härten vermieden werden.[4] Hätten die Impfgegner darin Recht, dass sich die Pocken durch verständige Gesundheitspflege vermeiden und auch ausheilen lassen, so dürfte doch ein grosser Teil der Leute, die nach Einführung der Gewissensklausel oder nach Abschaffung des Gesetzes ihre Kinder nicht mehr impfen lassen, hierzu


  1. Dies wird zugegeben u. a. von Laband, Staatsrecht 4 3, 253; Loening, Deutsches Verwaltungsrecht S. 309, 3; Meyer-Dochow 4 § 42 S. 186 10; Kirchner, Schutzpockenimpfung S. 34; Joachim Korn, Deutsches Ärzterecht (1911) 1, 229; Galli in Stengleins Nebengesetzen 4 1, 623, 7. Zurzeit stehen auch die meisten Oberlandesgerichte auf diesem Standpunkt.
  2. So u. a. auch Laband 4 3, 253; Meyer-Dochow 4 § 42 S. 187 11; Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts 2 (1912) S. 196 14. Auch das preussische Oberverwaltungsgericht vertritt (schon am 1. März 1895) diesen Standpunkt, „da die Polizei befugt ist, zur Durchführung gesundheitspolizeilicher Massnahmen auch Zwangsmittel anzuwenden und diese Befugnis durch das Impfgesetz nicht gemindert oder ausgeschlossen ist.“ – Dagegen Entschliessung des Gr. bad. Minist, d. J. vom 26. Jan. 1911: „Mit Rücksicht darauf, dass die Zulässigkeit der zwangsweisen Durchführung der Impfung nach der Entstehungsgeschichte des Impfgesetzes immerhin zweifelhaft ist, sehen wir auch davon ab, den Bezirksämtern neuerdings Weisungen dahin zu erteilen, gegebenenfalls eine solche zwangsweise Durchführung der Impfung anzuordnen.“
  3. Über die nachteilige Wirkung des englischen Gesetzes von 1898 und der Novelle von 1907 vgl. Kirchner, Schutzpockenimpfung und Impfgesetz 1911 S. 92.
  4. Preuss. Min.-Erl., betr. die Anwendung physischen Zwanges bei der Impfung, vom 23. Januar 1911. Medizinalarchiv 2, 123.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 185. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/201&oldid=- (Version vom 3.12.2021)